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Montag, 29. Oktober 2007

Erzengel Gabriel



Bildquelle: www.catholic-church.org

Dein Bild berührt tief; mich berührt Deine Haltung voll Erhabenheit und Dankbarkeit zugleich, die wunderschön geschwungenen Flügel, Dein Gesicht voll Frieden und Sanftmut, die Lilie, die auch durch Dich so aufgerichtet sein darf. Ich glaube, dieses Bild wird, solange ich lebe, in meinem Herzen und, wo immer ich wohne, einen Ehrenplatz haben.
Auf dem Seitenflügel eines ganz unscheinbaren Altars habe ich Dich gefunden. Täglich geht dort der ein oder andere Mönch an Dir vorbei. Wahrscheinlich würde es gar nicht groß auffallen, wenn der Altar nicht mehr da wäre. Vielleicht sollte ich mir einen kleinen Lastwagen mieten und mit Deiner Erlaubnis Dir beim Umzug helfen … Klar, Raphael nehmen wir auch mit, wir lassen doch den zweiten Seitenflügel nicht dort … :-))

Seitdem Du - für mich wahrnehmbar - in mein Leben getreten bist, hat sich etwas verändert, was ich kaum beschreiben kann.
Durch Dein Sein ist eine Form von innerer Wertschätzung von mir für mich selbst in mein Leben gekommen, die ich bisher nicht kannte.

Es war in der Nachweihnachtszeit, als mich mein Weg in den Dom zu Fulda führte. In dem Dombuchladen nebenan - er ist echt ein Schatzkästchen, voll von Büchern und Geschenken, die man sonst nur selten findet - sah ich zum ersten Mal Dein Bild, wie es oben zu sehen ist, abgedruckt auf einer Postkarte. Auf ihrer Rückseite war zu lesen, dass sich das Original im Kloster Beuron befindet.
Wenige Wochen später stand ich vor der wunderschön im oberen Donautal gelegenen Erzabtei St. Martin. Es war Ostermontag. Die Klosterkirche war gesteckt voll. Nach der Messe suchte ich Dich, Dein Bild.
So ein Bild konnte nur in der Kirche sein. Aber ich fand Dich nicht.

Komisch. Ich war verunsichert und ging in den Klosterbuchladen. Ich zeigte der älteren Dame an der Kasse die Postkarte und hoffte, sie würde sagen: in der Kirche hinter der zweiten Säule rechts an der Wand, gar nicht zu übersehen. 
Aber so war es nicht, sie meinte: "Es muss eine Aufnahme von einem Flügelaltar sein, links und rechts sind dort wohl Raphael und Gabriel gemalt. - Da kommen Sie aber nicht hin, der steht im Trakt der Mönche."

Aus der Traum.
Ich war total enttäuscht. Der Tag war irgendwie gelaufen.

Während der Messe hatte ich amüsiert einen Mönch beobachet, der die Kollekte einsammelte, indem er mit einem über zwei Meter langen Stab gekonnt in die Bankreihen hineinjonglierte, um die Spenden entgegenzunehmen. Ich fand es köstlich, wie er immer so halb hinguckte, um sein Ziel nicht zu verfehlen und dann auch wieder wegguckte, damit niemand sich bedrängt fühlen möge. Als ich doch noch einmal in die Kirche lief, sammelte er gerade die Gesangbücher ein. Vielleicht, weil er mir schon etwas vertraut war, sprach ich ihn einfach an, aber auch deshalb, weil ich mich auf eine einzige Information allein wohl nicht verlassen wollte:
"Kann das sein, dass hier in der Kirche der Erzengel Gabriel nirgends abgebildet ist?"
"Doch doch", sagte er, "des Öfteren, Sie müssen mir schon sagen, welchen genau sie suchen."
Ich zeigte ihm die Postkarte.
"Wollen Sie ihn sehen?" Ich glaube, er hat sich ziemlich über meine großen Augen gewundert. "Kommen Sie mit!"

Am Chorgestühl vorbei verließen wir durch eine Seitentür die Kirche. Wir liefen einen langen Gang entlang; dann stand ich vor Dir:
aufgemalt auf dem rechten Flügel eines eher unscheinbaren, kleinen Altars, der auf dem Flur stand, auf dem die Mönche zum Ausgang in den Klostergarten gehen, und der den Sinn hat, dass sie sich hier noch einmal verneigen und ein Gebet sprechen, bevor sie das Haus verlassen.

Vielleicht kennst Du als Engel nicht das Gefühl, wenn man etwas unendlich Schönes sieht und diesen Eindruck für immer so mitnehmen möchte, wie er ist; man schaut und nimmt und schaut und nimmt, doch unser menschliches Bewusstsein lässt die Eindrücke einfach mit der Zeit verblassen. -
Was bleibt, ist Erinnerung.
So bist Du in meinem Inneren, er-inn-ert.
Seitdem bist Du mir nah.
Und: seltsam - dein Bild verblasst gar nicht - im Gegenteil.

Ich bedankte mich überschwänglich bei Bruder Nikolaus; ich kann mir vorstellen, er war etwas verwundert, aber zugleich glaubte ich zu spüren, dass er merkte, einen wie großen Gefallen er mir getan hat.

Du bist mir einige Zeit später in einer der schwierigsten Situationen meines Lebens beigestanden. Damals wusste ich das natürlich noch nicht.
Du hast Dich über mich gebeugt und ich durfte vielleicht für diesen Moment der Bewährung diese Lilie sein.

Freitag, 26. Oktober 2007

Anne-Kathrin: Beziehungen

Liebe Anne-Kathrin,
ich danke Dir, dass Du mir erlaubt hast, Deine Zeilen hier hineinzuschreiben. Als Du sie im letzten Jahr verfasst hast, warst Du 16 und wir trafen uns im Fach Deutsch in der 11. Klasse. Jeder sollte damals im Rahmen einer Art Poetry-Slam einen Text schreiben, also eine Form von Gedicht, in dem alles erlaubt ist; wenn man will, kann man mittendrin singen oder eine Strophe auf Chinesisch vortragen.
Bewundernswert, was ihr alle damals geschrieben habt; jeder kam ja nach vorne und trug seinen Text vor. Für jeden gab es Beifall, ob sein Text vier Zeilen umfasste oder 40.
Ich war einfach nur fasziniert von der Vielfalt dessen, was ihr vortrugt.
Als Du Deine Zeilen gelesen hast, war es zunächst sehr still.
Ich war innerlich fassungslos.
Niemand hatte damit gerechnet, dass unter uns jemand ist, der so bis in seine Tiefen verletzt ist und uns Anteil nehmen lässt.
Ich glaube, ich darf im Namen aller damals Anwesenden sagen: danke für Dein Vertrauen!
Du stehst für viele andere junge Menschen, denen es auch so geht.
Du hattest den Mut zu sprechen.
Oft habe ich in unserem gemeinsamen Jahr Deine Traurigkeit in Deinem Gesicht, Deinen Augen gelesen, gesehen.
Von ganzem Herzen wünsche ich Dir, dass aus großem Trost, den Deine Seele erfahren möge, langsam, aber doch beständig und immer mehr und immer mehr wieder Freude in Dein Leben einziehen darf.


Deine Gedanken sind überschrieben

Beziehungen


Kind und Vater
Am Anfang ist alles offen
Vertrauen – Misstrauen
Zu Beginn war das Vertrauen
Doch viele Enttäuschungen durch den Vater
ließen Misstrauen wachsen
Hoffnung – Enttäuschung

Zu Beginn gab es viel Hoffnung
Doch viele Handlungen des Vaters
ließen die Hoffnung schwinden
und Enttäuschung blieb zurück.
Freude – Traurigkeit

Zu Beginn dachte das Kind immer mit Freude an den Vater
Doch sein mangelndes Verständnis
ließen von der Freude
nur Traurigkeit übrig
Liebe – Hass

Am Anfang ist es Liebe
Eine Blume, die das Kind dem Vater schenkt
Doch der Vater erkennt das Geschenk nicht
Die Blume bleibt unbeachtet
Seinen Augen bleiben solche Dinge verborgen
Da nur Erfolg und Materielles für ihn wichtig sind
Sein Ziel fest im Blick
Zertritt er die Blume –


Langsam wächst an ihrer Stelle eine neue Pflanze –
genährt von Misstrauen und Enttäuschungen
- Hass –
- Beziehungen -

Montag, 22. Oktober 2007

Überall blühen Narzissen

Bildquelle: www.englisch-hilfen.de

Narziss ist in der griechischen Sage der Sohn des Flussgottes Kephissos und ein "schöner" Jüngling.
Was er nicht hätte tun sollen: die Liebe der ohnehin schon so geplagten Nymphe Echo zu verschmähen. So wird er damit bestraft, sich in ihrem Teich in sein im Wasser geschautes Spie- gelbild zu verlieben. In übergroßer, unstillbarer Sehnsucht verzehrt er sich schließlich nach sich selbst und wird in eine Blume verwandelt: die Narzisse.Seelisch gesehen finden wir die narzisstische Persönlichkeit in Menschen, die sich ständig spiegeln müssen, sei es zum Beispiel in realen (Wasser-)Spiegeln oder auch mit Hilfe anderer Menschen, indem sie vor allem danach schauen, wie sie selbst zu gefallen wissen, wie sie selbst wirken. Das Drama der narzisstischen Persönlichkeit besteht darin, dass sie immer nur die eigene (Wasser-)Oberfläche spiegelt, den schönen Schein. In die Tiefen des Wassers, des Wassers der eigenen Seele dringt ihr Blick nicht vor. Wir können Sie u.a. täglich im Fernsehen in eitlen Pfauengestalten sehen.
Übrigens: Wenn wir genau hinhören, schreien Pfauen grässlich. Manchmal blüht der Narzissmus auch ganz im Verborgenen und bisweilen verwelkt die narzisstische Persönlichkeit sehr schnell, ertränkt in ihrer Scham. In Wahrheit nämlich schämt sich Narziss, weiß er doch im Grunde seiner Seele, dass er nicht schön ist, sondern nur selbstgefällig, dass er ein falsches Selbst lebt, nicht sein wahres. In diesem Zusammenhang ist die Spiegel- bzw. Wassersymbolik im Narzissmythos bemerkenswert: Des Menschen Seele gleicht dem Wasser, schreibt Goethe angesichts des Staub- bachwasserfalls im Lauterbrunnental. Menschen begegnet das Wasser auf die unterschiedlichste Weise: Täglich ertrinken manche in ihm; täglich trinken wir Erdenbewohner es, täglich ist es den Menschen Schrecken und Labsal zugleich.
Wie auch immer wir es erleben: Wir bedürfe n seiner, denn wir bestehen zu über 70 Prozent selbst aus ihm. Der Wasserbereich symbolisiert die Ebene der Gefühle. Daran erkennen wir, wie viel der Gefühlsbereich in unserem Leben ausmacht, auch wenn es viele Menschen nicht wahrhaben wollen. Das eben liegt daran, dass man Gefühle nur fühlen kann.
Wie aber will jemand, der seine Gefühle in seiner Ursprungsfamilie nur sehr bedingt wahrnehmen durfte - und das ist leider immer noch eher die Regel als die Ausnahme -, die Bedeutung von Gefühlen beurteilen? Trotzdem fällen vor allem gerade rational fixierte Menschen Urteile über die Bedeutung von Gefühlen. In Wirklichkeit sprechen sie über etwas, was sie oft nur wenig mehr als dem Wort nach kennen. Die Wirklichkeit finden wir in unserer Gesellschaft gespiegelt, in welcher man durchaus gefühllos, bloß nicht kopflos sein darf … Nur wenn wir in die Tiefen der Seele vordringen, erkennen wir uns selbst. Schillers Taucher ist ein Dokument hierfür, aber auch die Brunnensymbolik, wie wir sie in Hofmannsthals "Weltgeheimnis" gestaltet finden. Jesus ist ein Meister dieses Elements, wenn er über das Wasser geht. Er spiegelt sich nicht wie Narziss, sondern ist jenen ein Helfer, die im Wasser versinken, weil sie nicht mit ihren Emotionen klarkommen. Petrus, als er es Jesus nachtun möchte, um sich auch als ein Meister seiner Gefühle zu erweisen, glaubt und glaubt doch nicht. Als Wind aufkommt und er Angst bekommt, schwindet sein Vertrauen, und er versinkt im Wasser, er versinkt in seinen Ängsten, in seinen Emotionen. - Tagtäglich tun das viele Menschen und gehen im realen oder im Ozean ihres Lebens unter, ohne dass sie die Hilfe wahrnehmen wollen, die Petrus zuteil wurde. Nur das ständige Ausgerichtetsein auf die Liebe vermag den Menschen auf dem Wasser gehen zu lassen, zu schwimmen, wann er möchte, zu baden, zu plantschen, nicht aber unterzugehen. Die narzisstische Persönlichkeit ist gar nicht in der Lage, in das Wasser einzutauchen; sie hat Angst vor den Tiefen des Wassers, vor ihren tiefen Gefühlen. Lieber schwimmt sie auf dem Trockenen. Es bleibt ihr als Sehnsucht nur die Erinnerung an die Wärme des eigenen Fruchtwassers, geborgen im Bauch der Mutter. Zumeist liegt ihre im Grunde verzweifelte Situation daran, dass sie nach der Geburt nicht in Mutterliebe baden durften; sie nämlich, die göttliche Marien- und die wahre Mutterliebe unserer Erde sind das Wasser des Lebens. Was allerdings für Mutterliebe gehalten wird, ist eben nur das, was Menschen subjektiv als Liebe bezeichnen. Für jede Frau ist Liebe das, was von ihren Eltern als solche bezeichnet wurde; mit tatsächlicher Liebe hat das oft wenig zu tun.
Ich schließe mich Alice Miller an, wenn sie in "Das Drama des begabten Kindes" schreibt: "Ein Tabu, das alle Entmystifizierungstendenzen unserer Zeit überdauert hat, ist die Idealisierung der Mutterliebe." Der real existierenden Mutterliebe.Ein ganzes Kapitel widmet sie in ihrem Buch der verlorenen Welt der Gefühle. Dasher" ist ein Dokument hierfür, aber auch die Brunnensymbolik, wie wir sie in Hofmannsthals "Weltgeheimnis" gestaltet finden. Jesus ist ein Meister dieses Elements, wenn er über das Wasser geht. Er spiegelt sich nicht wie Narziss, sondern ist jenen ein Helfer, die im Wasser versinken, weil sie nicht mit ihren Emotionen klarkommen. Petrus, als er es Jesus nachtun möchte, um sich auch als ein Meister seiner Gefühle zu erweisen, glaubt und glaubt doch nicht. Als Wind aufkommt und er Angst bekommt, schwindet sein Vertrauen, und er versinkt im Wasser, er versinkt in seinen Ängsten, in seinen Emotionen. - Tagtäglich tun das viele Menschen und gehen im realen oder im Ozean ihres Lebens unter, ohne dass sie die Hilfe wahrnehmen wollen, die Petrus zuteil wurde. Nur das ständige Ausgerichtetsein auf die Liebe vermag den Menschen auf dem Wasser gehen zu lassen, zu schwimmen, wann er möchte, zu baden, zu plantschen, nicht aber unterzugehen. Die narzisstische Persönlichkeit ist gar nicht in der Lage, in das Wasser einzutauchen; sie hat Angst vor den Tiefen des Wassers, vor ihren tiefen Gefühlen. Lieber schwimmt sie auf dem Trockenen. Es bleibt ihr als Sehnsucht nur die Erinnerung an die Wärme des eigenen Fruchtwassers, geborgen im Bauch der Mutter. Zumeist liegt ihre im Grunde verzweifelte Situation daran, dass sie nach der Geburt nicht in Mutterliebe baden durften; sie nämlich, die göttliche Marien- und die wahre Mutterliebe unserer Erde sind das Wasser des ist wichtig und wertvoll.
Ich hätte mir gewünscht, dass sie auch ein Kapitel der Mutterliebe widmet. Das ganze Drama um die Gefühle wird sehr deutlich auf dem Hintergrund der Aussage von John Bradshaw in seinem Buch "Wenn Scham krank macht": "Man kann nur heilen, was man fühlt."
Wie aber wollen wir gesunden, wenn wir unsere Wunden gar nicht oder kaum fühlen?
Wie wollen alle in Wirklichkeit todkranken Anfortasse heil werden, alle siechen Gralskönige dieser Erde, die voller Scham sind - kein Zufall, dass Anfortas tat- sächlich an der Scham durch einen Speer verletzt ist -, wenn sie nicht einmal die Schmerzen ihrer Seele fühlen? Dass sich ein Narzisst spiegelt, ist seine Überlebensstrategie. Selbst wenn er nicht in das Wasser einzutauchen vermag, überlebt er durch die Erinnerung daran. Vor allem aber überlebt er, indem er anderen das "Wasser des Lebens" entwendet. Er räubert in den Gefühlen anderer. Das Grimm-Märchen "Vom Wasser des Lebens" thematisiert dieses Geschehen, in dessen Rahmen auf unserer Erde Menschen, die fühlen können, noch sterben müssen an der Gefühllosigkeit anderer. Noch blüht der Vampirismus der Gefühle. Wie also wollen Menschen gesunden, wenn sie nicht fühlen? Hier liegt eine bedeutsame Aufgabe der Menschenschule.
Nun ist es Zeit, mit Mut allen emotionslosen Wissenschaftlern und linkshirnigen Pädagogen entgegenzuhalten, was Faust seinen kopfgesteuerten Famulus Wagner wissen lässt:"Wenn ihr´s nicht fühlt, ihr werdet´s nicht erjagen, / wenn es nicht aus der Seele dringt ...!
Es ist die bekannte Mystikerin Teresa von Avila, welche die oben angesprochenen Zusammenhänge in ihrer Schrift "Die innere Burg" bestätigt, indem sie schreibt, dass sie nichts weiß, was "zur Erklärung mancher geistigen Dinge geeigneter wäre als eben das Wasser".
So kann sie eine Wahrheit kundtun, die in ganz besonderem Maße für jene gilt, welche die Wasser ihrer Seele auch in den Tiefen reinigen wollen: "Wie die Bächlein, die einer sehr klaren Quelle entspringen, rein und lauter sind, so ist es auch die Seele, die in der Gnade lebt."

In der Gnade zu leben bedeutet auch, fühlen zu dürfen.

Samstag, 20. Oktober 2007

einander anschauen - einander verstehen

Bildquelle:www.rcvbitburg.caritas.de
"Im Kreis können wir uns alle ansehen. Wir können die anderen Menschen verstehen. Das System in den öffentlichen Schulen erlaubt uns nicht, ins Gesicht des anderen Menschen zu blicken. Die Sitzanordnung ist so, dass wir nicht in das Angesicht unseres Bruders und unserer Schwester blicken dürfen. Wir sitzen einer hinter dem andern und sehen nur Hinterköpfe. Daher wissen wir nicht, ob der Mensch vor uns lacht oder weint, weil es uns nicht erlaubt ist, sein Angesicht zu sehen. Der einzige Weg des Verstehens aber ist, wenn wir dem anderen Menschen ins Gesicht blicken können. Für mich hat ein solches Schulsystem den Zweck zu individualisieren, weil die Schüler gezwungen werden, über sich selbst und nicht über die anderen nachzudenken. Während unserer gan­zen Schulzeit wird uns gelehrt, "mein" zu sagen und nicht "unser". Wenn wir auf den Mitmenschen schauten und sahen, dass er in Not war, konnten wir ihm helfen und Anteil nehmen. Wir erkannten den Mitmenschen und wussten, ob er traurig oder glücklich ist.
Auf der ganzen Welt tanzen die Menschen im Kreis und reichen sich die Hände.
Wann haben wir den Kreis verloren?
Wann haben wir den Rundtanz verloren?
Wann die Achtung und die Liebe für den Mitmenschen?
Als wir individualisiert wurden, da haben wir all dies verloren. Das System hat die Menschen entmenschlicht. Wir wurden zu verwirrten Menschen, ohne Respekt für jemanden außer uns. Das heutige Wertsystem hat uns vom natürlichen Dasein getrennt [...]
Der Kreis ist uns heilig, denn alle natürlichen Dinge fangen mit einem Kreis an: die Sonne, der Mond, die Erde, die Früchte, alles hat die Form des Kreises. [...]
In diesem Kreis, von dem wir gesprochen haben, ist auch der Schöpfer mit eingeschlossen."
Diese Worte entstammen einem Vortrag Philip Deeres, den er in der Aula der Universität Zürich am 6. November 1978 hielt, um für seine Schule des indianischen Weges zu werben. Der Vortrag wurde aufgezeichnet und vom Schweizer Radio am 19. März 1979 unter dem Titel „Der Kreis“ in deutscher Sprache ausgestrahlt.
Philip Deere ist ein mittlerweile verstorbener Muskokee-Medizinmann.


Freitag, 19. Oktober 2007

Viele Menschen glauben ...


Viele Menschen glauben wirklich, dass sie ohne eigene Bedürfnisse sind, nur weil sie sie nicht kennen.



Wenn eine Mutter sich selbst und ihr Kind vom ersten Tag seines Lebens an respektieren kann, braucht sie dem Kind niemals Respekt beizubringen ...
Aber eine Mutter, die seinerzeit von ihrer Mutter nicht als das, was sie war, ernstgenommen wurde, wird versuchen, sich mit Hilfe der Erziehung Respekt zu verschaffen.


Es ist undenkbar, dass man andere Menschen wirklich liebt, wenn man sich selber, so wie man ist, nicht lieben kann. Und wie soll man das können, wenn man von Anfang an nicht die Möglichkeit hatte, seine eigenen wahren Gefühle zu leben und sich so zu erfahren.
Viele begabte Menschen leben völlig ahnungslos über ihr wahres Selbst, vielleicht verliebt in ihr idealisiertes, angepasstes, falsches Selbst.

Ein Tabu, das alle Entmystifizierungstendenzen unserer Zeit über- dauert hat, ist die Idealisierung der Mutterliebe.

So paradox das erscheinen mag - ein Kind ist verfügbar. Ein Kind kann einem nicht davonlaufen, wie die eigene Mutter dazumal. Ein Kind kann man erziehen, dass es so wird, wie man es gerne hätte. Beim Kind kann man sich Respekt verschaffen, man kann ihm seine eigenen Gefühle zumuten, man kann sich in seiner Liebe und Bewunderung spiegeln, man kann sich neben ihm stark fühlen, man kann es einem fremden Menschen überlassen, wenn es einem zu viel ist, man fühlt sich endlich im Zentrum der Beachtung, denn die Kinderaugen verfolgen die Mutter auf Schritt und Tritt. Wenn eine Frau bei ihrer Mutter all diese Bedürfnisse unterdrücken und verdrängen musste, so mag sie noch so gebildet und guten Willens sein, auch wissen, was ein Kind braucht, bei ihrem eigenen Kind regen sich ihre Bedürfnisse aus der Tiefe ihres Unbewussten und drängen nach Befriedigung. Das Kind spürt es deutlich und gibt sehr früh auf, die eigene Not zum Ausdruck zu bringen.

A. Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst.

So, wie wir als Kinder behandelt werden, so behandeln wir uns während unseres ganzen restlichen Lebens.

Alice Miller, Am Anfang war Erziehung

aus John Bradshaw, Wenn Scham krank macht:

Wenn ein Kind nicht liebevoll behandelt wird, verliert es mit der Zeit das Gefühl, etwas Kostbares und Unvergleichliches zu sein.

Der Hauptfaktor, der dafür verantwortlich ist, dass jemand ein erwachsenes Kind wird, ist die Vernachlässigung der entwicklungs- bedingten Bedürfnisse, die nur durch die Bezugspersonen befriedigt werden können. Wir wachsen heran, sehen wie Erwachsene aus, wir gehen und reden wie Erwachsene, aber unter der Oberfläche verbirgt sich das kleine Kind, das sich leer und bedürftig fühlt, ein Kind, dessen Bedürfnisse unersättlich sind, weil es die Bedürfnisse eines Kindes im Körper eines Erwachsenen sind.
Das unersättliche Kind ist der Wesens- kern allen Zwangs- und Suchtverhaltens.


aus Wayne W. Dyer, Der wunde Punkt:


Wenn Sie das nächste Mal wieder vor der Entscheidung stehen, ob Sie nun die Entscheidung für sich übernehmen und Ihre eigene Wahl treffen sollen, dann legen Sie sich selbst eine gewichtige Frage vor: "Wie lange werde ich tot sein?"
Von dieser Ewigkeitsperspektive her wird es Ihnen dann gelingen, Ihre persönliche Wahl zu treffen und alle Sorgen, Befürchtungen, Zweifel, ob Sie sich denn das auch wirklich leisten können, sowie alle Schuld- gefühle denen zu überlassen, die ewig zu leben gedenken.
Falls Sie sich nicht zu diesem Schritt entschließen, müssen Sie sich auf ein Leben gefasst machen, in dem immer andere sagen werden: "Du musst ..."


Kein Mensch behandelt ein Auto so dumm wie einen anderen Menschen. Wenn das Auto nicht läuft, so schreibt er dieses ärgerliche Verhalten nicht der Sünde zu. Er sagt nicht: "Du bist ein verworfenes Auto, und ich werde dir kein Benzin mehr geben, bis du wieder gehst." Er versucht vielmehr, den Fehler zu finden und ihn zu beheben.
Bertrand Russell

Zu den schwierigsten und undankbarsten Patienten gehören nach meiner Erfahrung die sogenannten Intellektuellen; denn bei ihnen weiß die eine Hand nie, was die andere tut.
Mit einem durch kein Gefühl kontrollierten Intellekt lässt sich alles erledigen ...
C.G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken


Mittwoch, 17. Oktober 2007

Dankbarkeit - Anker für unsere Gegenwart


Tom Costa verdanke ich eine wunderbare Einsicht in die Bedeutung von Dankbarkeit. In dem Buch von L. Hay mit dem Titel "Dankbarkeit erfüllt mein Leben" erzählt er, wie er als junger Pfarrer einem Mann begegnete, der alles hatte, was es zum Leben brauchte. Er besaß ein Haus, war beruflich erfolgreich, erfreute sich guter Gesundheit, spielte täglich Tennis, hatte unlängst eine liebe Frau geheiratet, hatte Geld genug, um sich Wünsche zu erfüllen — dennoch war er depressiv und unglücklich.
Costa wusste nicht, was tun. Im Laufe der Zeit erkannte er jedoch, woran es dem Mann mangelte: an Dankbarkeit.Er schreibt:
"Ich erinnere mich noch genau, wie ich vor Jahren die sogenannte Fünfte Stufe des zwölfstufigen Programms der An­onymen Alkoholiker durchführte. Bei der Fünften Stufe hört sich jemand, etwa ein Geistlicher, den Lebensbericht des Al­koholikers bis zu der Zeit an, als er sich seinen Alkoholismus eingestand. Eine junge Dame bemerkte mir gegenüber: »Man kann nicht zugleich dankbar und unglücklich sein.«Ich war zu der Zeit wahrscheinlich 40 Jahre älter als sie, aber ich war spirituell überwältigt. Ich hatte diesen »Einzeiler« noch nie gehört, und er klang überzeugend! …Während ich über diesen Satz nachdachte, fiel mir meine katholische Erziehung und der Rosenkranz ein. Ich persön­lich habe jetzt das, was ich einen geistigen Rosenkranz der Dankbarkeit nenne. Ich zähle die »Perlen« oft morgens bei meinen Meditationen und Gebeten."
"Man kann nicht zugleich dankbar und unglücklich sein", das bedeutet auch:Wer nicht glücklich sein kann, dem fehlt es womöglich grundsätzlich an Dankbarkeit.Ein mindestens ebenso wichtiger Aspekt ist für mich die Lehre, die ich aus der Situation des Mannes ziehe, wie sie Costa geschildert hat, nämlich, dass wir durch Dankbarkeit etwas in einem positiven Sinn erst wirklich besitzen, es als Bereicherung erfahren, reicher werden. Vorher haben wir alles Mögliche einfach nur: Wir haben ein Motorboot, wir haben ein Haus, wir haben eine Ehe, wir haben Kinder …
Erst aber durch Dankbarkeit erfahren wir das alles als Reichtum, sind wir bereichert und wahrhaft reich. Diese Form von Reichtum kommt durch jedes Nadelör!
Dankbarkeit ist in Wahrheit die Nabelschnur zu unserem Glück, zu unserem inneren Reichtum, zu dem, was uns ausmacht.Noch mehr:Wenn wir danken, sind wir des Wertes von Leben gewärtig, wir befinden uns dankend immer in der Gegenwart; Dank ist verankert im Hier und Jetzt.Die Wurzeln der Dankbarkeit wurzeln mitten im Leben.Beide Hände - aufgenommen ist oben das Werk eines Holzschnitzers - symbolisieren, was ebenfalls gilt:
Dankbarkeit und Demut sind wie Bruder und Schwester – sie gehören zusammen.


Es gibt ein Lied, das mittlerweile in 25 Sprachen übersetzt ist und mit dem sein Verfasser, der Theologe und Kirchenmusiker Martin G. Schneider 1961 den 1. Preis im Rahmen eines Liederwettbewerb der Evangelischen Akademie Tutzing bekam – ich finde es wunderschön:

Danke für diesen guten Morgen,
Danke für jeden neuen Tag,
Danke, dass ich all meine Sorgen
auf dich werfen mag.


Danke für alle guten Freunde,
Danke, o Herr, für jedermann.
Danke, wenn auch dem größten Feinde
ich verzeihen kann.


Danke für meine Arbeitsstelle,
Danke für jedes kleine Glück,
Danke für alles Frohe, Helle
und für die Musik.


Danke für manche Traurigkeiten,
Danke für jedes gute Wort.
Danke, dass deine Hand mich leiten
will an jedem Ort.


Danke, dass ich dein Wort verstehe,
Danke, dass deinen Geist du gibst,
Danke, dass in der Fern und Nähe
du die Menschen liebst.


Danke, dein Heil kennt keine Schranken,
Danke, ich halt mich fest daran,
Danke, ach Herr, ich will dir danken,
dass ich danken kann.

Dankbarkeit ist ein großes Gefühl.

Hat nicht in Wirklichkeit derjenige, dem Dankbarkeit mangelt,
in ganz besonderem Maße eine Aufgabe auf der Ebene der Gefühle zu lösen?

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