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Samstag, 31. Januar 2009

"Wo fass´ ich dich, unendliche Natur! Euch Brüste, wo?" - Natur ist Sinn. - Wahre Sinnlichkeit ist Natürlichkeit!




Ja, es gibt ein Leben ohne den Faust, ein Leben ohne Goethe, aber mit ihnen, dem großen Weimarer und seinem geistigen Testament, wird manches sinn-voller.
So heißt es zu Beginn von Faust I (423f):

Und wenn Natur Dich unterweist, dann geht die Seelenkraft dir auf ...

Sicherlich gibt es noch andere Wege, damit die Seelenkraft in uns aufgehe, aber es gibt keinen umweltfreundlicheren, keinen offensichtlicheren, keinen näher liegenden und preiswerteren als das, was uns umgibt: Natur. Und wenn sie in uns einzieht, wenn wir anerkennen, dass sie unser Lehrmeister sein kann, dann kann sich unsere Seele auf ungeahnte Weise entfalten, dann erkennen wir in manch kleiner weißen, gelben, weißgelben Blume den Ring des Göttlichen, den Spiegel der Sonne mitten unter uns.
Und es gibt ein Wissen, das Goethe uns voraus hat, nachzulesen ebenfalls in Faust I (455f): Natur ist Sinnlichkeit pur:

Wo fass´ ich dich, unendliche Natur!
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens ...

Goethe war nicht nur eine zutiefst religiöse und zutiefst romantische Seele, sondern aufs Innigste mit der Natur verbunden; in ihr manifestiert sich ihm Göttliches und Menschliches zugleich, zu erkennen u.a. in seinen Werther-Briefen. Zugleich war er mit dem Terrain des Weiblichen sehr vertraut; viele seiner zahlreichen Liebesgedichte sind wort-materialisierte Bezeugungen und Zeugnisse für die Liebe und das Wesen des Weiblichen. Für ihn ist es das Weibliche, das Menschliches und Göttliches verbindet.
Kein Wunder verschmelzen ihm diese beiden Bereiche des Lebens, Weiblich-Sinnliches und Natürliches. Und kein Wunder (er-)fasst er die Natur, wenn er Gleiches mit Brüsten tut und sie mit Quellen des Lebens vergleicht - Weiblichkeit ist ihm Natur pur.
Das darf man dem großen Liebenden, der sich noch mit 72 Jahren unsterblich verliebte und es so ernst meinte, dass er seinen Herzog als Brautwerber vorschickte, wirklich glauben. Als er damals erkennen musste, dass weder die Auserkorene noch deren Mutter seinem An-Sinnen folgen wollten, schrieb er sich seine Liebe vom Leibe und mitten in seine Seele, in der sie uns noch heute vorliegt als die berühmte Marienbader Elegie.

Was aber Goethe uns wirklich voraus hat, ist die Erkenntnis, die sich indirekt aus den Worten seines Faust ergibt:

Natur ist Sinnlichkeit und
Weiblichkeit pur und
wahre Sinnlichkeit ist ohne Natur-Sinn nicht denkbar.

Sinnlichkeit ist ohne Natürlichkeit nicht möglich.
Sinnlichkeit erschließt sich auf natürlichem Wege - oder gar nicht.

Was Goethe von der prostitutiven Geilheit vieler unserer Zeitgenossen halten würde, lässt sich denken.

Haben Männer ohne Zugang zur Natur auch in Wahrheit keinen Zugang zu wahrer Weiblichkeit?


Die Abbildung der Schlüsselblume ist entnommen dem leider
nicht mehr aufgelegten im Schwitter-Verlag 1978 erschienenen
Das große Buch der Heilpflanzen. Foto: Norma Schwitter.
Ja, in der Tat, die Abbildung zu Beginn - das ist mein Faust :-))

Donnerstag, 8. Januar 2009

Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir! - Über die Magie der Realität in Goethes "Faust".

Eine wahrlich magische Stelle in der Weltliteratur findet sich - wie sollte es anders sein - in Goethes Faust I.
Jener berühmte Dr. Faustus, der so die Nase voll hat von dem ganzen trockenen universitären Kathederwissen, ist gerade dabei, den Erdgeist zu beschwören, um mit Magie herauszufinden, was die "Welt im Innersten zusammenhält." Vor sich ein geheimnisvolles Buch des Nostradamus (1503-1566) will er anstelle trockener Sinne seine Seelenkräfte so aktivieren, dass er - wie er selbst es formuliert - an die "Brüste der Natur", die "Quellen allen Lebens" herankommt. Fast übermütig fragt er sich angesichts des Zeichens des Makrokosmos, des Hexagramms, das ihn inspiriert und belebt: "Bin ich ein Gott? Mir wird so licht." - Kurze Zeit später wird er von sich als "Ebenbild der Gottheit" sprechen.
Als das magische Ritual und damit die Beschwörung des Erdgeistes gelingt und jener auftaucht, ist Faust durch dessen Ausstrahlung und Intensität völlig überfordert:

"Weh! Ich ertrag dich nicht!"

Jener Erdgeist ist uns kein Unbekannter. Im Werk von Giordano Bruno (1548-1600) taucht er als anima terrae, als Seele der Erde auf, und bei Paracelsus (1493-1541) finden wir einen archeus terrae, also einen (Welt-)Geist der Erde.

Gerade will Faust - der Erdgeist hat soeben beruhigend gesprochen - sich diesem Wesen anbiedernd nahen, da spricht jener - und darauf wird er sofort entschwinden - obige Worte:

        Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir!

Was später Faust zum Verhängnis werden wird, dass nämlich unter dem Einfluss von Mephistopheles sein Streben nach Erkenntnis kein Maß und Ziel kennt, deutet sich hier schon an, wenn er dem Erdgeist nachruft:

         Und nicht einmal dir!

Welch eine Hybris - welch ein geistiger Übermut!

Da klopft es.
Und herein durch die Türe tritt Wagner, ein alternder wissenschaftlicher Assistent des Universitätswissenschaftlers Faust, den dieser gar nicht sonderlich mag, geht er ihm doch mit seiner devoten Haltung auf den Keks, und nicht zufällig bezeichnet ihn Faust als trockenen Schleicher. Angetan ist jener zudem mit einer Schlafmütze, noch eine Lampe in der Hand ... der Biedermann in Person, ein deutscher Michel.

Faust ist stinkesauer, dass dieser trockene Schleicher ihn stören muss mitten in der Fülle seiner so hehren Gesichte.

Ziemlich überheblich wirkt Herr Doktor Faustus, und vielleicht gerade deshalb hat er seine Lektion nicht gelernt, die ihm der Erdgeist mit auf den Weg gab, ja, in Wirklichkeit hat er nicht einmal erkannt dass es FÜR IHN etwas zu lernen gab.

Just in dem Moment, als dieses hohe Wesen, der Erdgeist also, unseren Faust in die Schranken verweist durch eben jenen oben angeführten Satz - Du gleichst dem Geist, den begreifst, / Nicht mir! ... - taucht sein biederer Famulus auf.
Das ist in Wahrheit jener Geist, den Faust begreift.
Dies wollte ihm der Erdgeist vermitteln: Diesen, deinen Famulus begreifst Du, mich nicht!

In Wirklichkeit bist Du nicht weiter als er, obwohl du dich auf eine Stufe mit mir stellst!
Kapier das, Du bist nicht der, für den Du Dich hältst!
Ein bisschen mehr Bescheidenheit, also Demut bitte!

Am besten hätte Faust die Lampe seines Famulus, seines Dieners übernommen, damit sie ihn erleuchte.

So, ohne Selbsterkenntnis, schlafmützig selbstgefällig, wie er war, wäre ihm auch dessen Schlafmütze gut zu Gesicht gestanden.

Manches Mal kommt die Lernlektion einfach durch die Tür.

Das ist die wahre Magie, die Magie der Realität.

Wenn wir sie entschleiern, sehen wir Wahres über uns.
Dann können wir uns abwenden oder auf uns zugehen.



* Die Bilder enthalten magische Hexagramme von Eliphas Levi,
auch Siegel Salomos genannt oder Davidsstern.
** Das Motiv der Lampe, die man selbst in die Hand nimmt, findet sich auch
in Kafkas Prozess im Rahmen der Türhüterlegende
*** Mehr zu Goethes Symbolsprache hier.