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Freitag, 13. Februar 2009

Es war, als hätt der Himmel / Die Erde still geküsst: Erinnerung schafft das Morgen – die Magie der Hoffnung.




Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Wenn wir tief in uns gehen, wenn wir den Weg der Er-inne-rung nach innen gehen, kommen wir in jene Zeit, da der Himmel einst die Erde immer wieder küsste; es war - so entnehmen wir der griechischen Mythologie - zu Zeiten der Regentschaft von Uranos, dem Himmel, und Gaia, der Erde, noch bevor die Herrschaft der Zeit, die Herrschaft des Gottes Kronos einsetzte – es war das Goldene Zeitalter; die Bibel nennt es Paradies.

Wir meinen, das sei Ewigkeiten her. Das ist es natürlich auch, doch was Dichter wie Eichendorff ahnend zum Ausdruck bringen und all unsere Seelen wissen: In gewissen Mondnächten wiederholt er sich, dieser Himmelskuss, und die Erde träumt ihr ewiges Es war einmal, träumt von ihrem Geliebten, dem Himmel.

Magisch lebt dann die ganze Welt.
Kein Wunder ist die Luft in der zweiten Strophe von Eichendorffs Mondnacht ein lebendiges Wesen, sie geht durch die Felder; auch die Ähren sind lebensvoll beseelt, sie wogen, ebenso die Wälder, sie rauschen; und die Nacht zeigt uns alle ihre Sterne.

Es scheint, als ob alles in der Vergangenheit spiele, die Luft ging, die Ähren wogten, die Wälder rauschten: Alles geschieht in der Vergangenheit.
Und doch geschieht alles auch im Augenblick des Lesens.
Warum ist alles uns so präsent?
 

Es ist nicht nur die griechische Mythologie, die den Hintergrund bildet für das Glück des Anfangs, dessen Wirklichkeit unsere Seelen alle erlebt haben, dessen Wirklichkeit selbst der Konjunktiv II in "hätt" nicht schmälern kann, ja, im Gegenteil, vielleicht gerade hervorlockt; es ist auch die griechische Weisheitslehre, die den Hintergrund zur dritten Strophe bildet.
 

Wir hören Platons Worte aus dem Phaidros:

Wenn die Seele vollkommen und geflügelt ist,
schwebt sie in der Höhe und durchwebt das ganze Weltall.

 
Wenn sie dies tut, kann sie jederzeit nach Hause fliegen.
Ja, wenn sie so fliegt, dann ist sie zu Hause.
 

Es gibt wohl keine Zeilen mehr in der deutschen Lyrik, welche die Menschen – man möchte fast sagen: die Menschheit – auf so innige Weise versammelt vor dem Altar der kosmischen Hochzeit; und alle wissen:
 

* Ja, der Himmel hat einst die Erde still geküsst, wir waren dabei.
* Ja, der Himmel wird die Erde wieder küssen; wir werden dabei sein.
* Ja, wir fliegen alle einst nach Hause. Und wenn wir daran glauben: in einer Mondnacht.
Auch Richard Dehmel weiß von diesem Moment in seinem Gedicht Manche Nacht.

Es ist die Magie der Hoffnung, welche die Menschen vereint.
 
Wie heißt es am Schluss der Märchen:

Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Die Bedingung "Und wenn …" ist für Erwachsene geschrieben, damit ihnen die Option der Hoffnung offenbleibt.
Ein Kind glaubt ohnehin, dass sie noch heute leben und das heißt: für immer.
 

Der Konjunktiv II, den Eichendorff auch am Schluss verwendet – "… als flögen sie …" – ist den Erwachsenen geschuldet.
 

Ein Kind weiß:

Wenn die Seele weit ihre Flügel ausspannt,
dann fliegt sie nach Hause;
dann ist sie zu Hause.

Und in diesem Moment, wo wir obige Zeilen lesen, spannt unsere Seele trotz der Vergangenheitsform "Es war …" und trotz der Unwirklichkeit des Konjunktiv II ihre Flügel aus und sie fliegt für diesen Moment.


Es gibt keinen wertvolleren Augenblick
als diesen Moment der Hoffnung.

Hoffnung ist unsere Wegzehrung.

Durch sie vereinen sich in uns Weg und Ziel.

Im Ziel sind wir zu Hause, gewiss.

Doch unterwegs haben wir Hoffnung und Weg und Ziel.

In einem.

Ja, wir dürfen dieses Unterwegs-Sein sogar genießen.
In diesem bewussten Unterwegs-Sein
kommt uns der Vater schon entgegen.

Auch wenn das große Gleichnis anders überschrieben ist:

Der verlorene Sohn, die verlorene Tochter
sind verloren nur aus der Sicht von Menschen.

Unser geistiger Vater gibt uns niemals verloren.


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2 Kommentare:

Sherry hat gesagt…

Oh ja. Wie ich dieses Gedicht von Eichendorff liebe. Er hat mich sehr geprägt!

Johannes G. Klinkmüller hat gesagt…

Grüß Dich, Sherry,

ja, wir brauchen das, immer mal wieder die Flügel weit auszuspannen und nach Hause zu fliegen ...