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Freitag, 17. Juli 2009

Stets von neuem zu sich selbst entlassen werden: Hilde Domins Bitte


Die 2006 in Heidelberg verstorbene Lyrikerin weiß, wovon sie spricht. Viele Jahre ihres Lebens verbrachte sie im Exil, unter anderem in der Dominikanischen Republik auf Santo Domingo, das ihr auch Namenspate war, als sie zu schreiben begann und sich Domin nannte, Hilde Domin.

Eines ihrer ehrlichsten und beeindruckendsten Gedichte ist das folgende:


     Bitte
Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen,
wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut.

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht,
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht.

Es taugt die Bitte,
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden.

Und dass wir aus der Flut,
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst entlassen werden.

In den Mythen vieler Völker ist von einer großen Flut die Rede, von der auch in der Bibel erzählt wird.
Doch es ist ein Kennzeichen gerade eines so heiligen Buches wie der Bibel, dass im Grunde alles, wovon dort berichtet wird, kein einmaliges Geschehen ist.
Das gilt schon von dem göttlichen Es werde Licht zu Beginn der Schöpfung; denn immer dann, wenn uns etwas bewusst wird, wenn aus Chaotischem eine Ordnung wird, wiederholt sich das Es werde Licht des Urbeginns in uns.

Genau das Gleiche gilt für die Sintflut. Jeder hat von ihr gehört und vielleicht sie auch erlebt und in der Tat müssen wir bisweilen nass bis auf die Herzhaut werden, um wirklich in die Arche zu steigen.

Ja, es gibt diese Wünsche, verschont zu bleiben, von denen Hilde Domin spricht, ja, es gibt für so vieles eine Versicherung, für vieles steht das Skalpell des Operateurs bereit, wir flüchten mit vielen Methoden von der Langeweile in die Kurzweil.
Es geht schon, das Eingetauchtwerden zu verhindern. Tatsächlich müssen wir nicht wie Daniel in die Löwengrube oder in den feurigen Ofen.
Wir müssen uns nicht zu uns selbst bekennen wie Daniel zu seinem Gott.
Wozu gibt es Bagger, die die Gruben samt Löwen zuschütten und Feuerwehren, die Feueröfen zuschäumen!
Wozu also diesen Engel, der mit im Feuer steht, wie es Daniel erlebte ...

Wer so denkt und handelt braucht auch keine Bitte.

Nur jener, der die Grenze zum Land der Tränen überschreitet, weiß, wie das Salz ins Meer kommt, erkennt, was ein Sonnenaufgang wirklich bedeutet, versteht die Botschaft der Taube und begreift, dass Heilung eine immer wiederkehrende Begegnung mit sich selbst voraussetzt.

Immer wieder gilt es, aus dem Gefängnis des falschen Selbst zu sich selbst entlassen zu werden.

Ein Leben ohne Sintflut könnte ein verlorenes Leben sein.

Viele wählen die Titanic, mancher, manche die Arche.



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