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Freitag, 13. August 2010

"An meinen Schutzengel" - Mascha Kalékos berührende Zeilen

Das folgende Gedicht hat mich immer sehr berührt.
So selbstverständlich die Worte auf den ersten Blick scheinen und geschrieben sind, so zärtlich liebevoll und überzeugend wahr in ihrer einfachen Klarheit habe ich dennoch selten Worte einer Mutter empfunden, wenn Mascha Kaléko in der vorletzten Strophe von ihrem Kind schreibt:


Er ist mein Sohn.


 

Auf ihre Weise persönlich, auf ihre Weise ehrlich aufrichtig und sicher um seine Nähe wissend spricht zudem wohl selten jemand mit seinem Schutzengel.

Direkt und unmittelbar schreibt diese aus jüdischen Elternhäusern stammende Autorin - als sie 1907 geboren wird, sind ihre Eltern noch nicht verheiratet - immer wieder in ihrer Lyrik.

Das Licht der Welt erblickt das Kind, das ursprünglich und vielleicht bezeichnend Golda Malka Engel heißt, unweit des Ortes Oswiecim, der Jahre später als Auschwitz traurige Berühmtheit erlangen wird.

Berührt hat mich das Gedicht aber vor allem deshalb, weil jener Sohn, um den sie ihren Schutzengel bittet, dass er auf ihn Acht haben möge, tatsächlich viele Jahre in dessen guter Obhut war; er wurde und war ein hochbegabter Musiker.

31-jährig allerdings stirbt Ejvatar nach kurzer unerbittlicher Krankheit in New York; über diesen Verlust ist Mascha Kaléko kaum hinweggekommen; umso mehr rühren mich diese Zeilen, die sie lange zuvor schrieb:


An meinen Schutzengel

Den Namen weiß ich nicht. Doch bist du einer
Der Engel aus dem himmlischen Quartett,
Das einstmals, als ich kleiner war und reiner,
Allnächtlich Wache hielt an meinem Bett.

Wie du auch heißt - seit vielen Jahren schon
Hältst du die Schwingen über mich gebreitet
Und hast, der Toren guter Schutzpatron,
Durch Wasser und durch Feuer mich geleitet.

Du halfst dem Taugenichts, als er zu spät
Das Einmaleins der Lebensschule lernte.
Und meine Saat, mit Bangen ausgesät,
Ging auf und wurde unverhofft zur Ernte.

Seit langem bin ich tief in deiner Schuld.
Verzeih mir noch die eine - letzte - Bitte:
Erstrecke deine himmlische Geduld
Auch auf mein Kind und lenke seine Schritte.

Er ist mein Sohn. Das heißt: Er ist gefährdet.
Sei um ihn tags, behüte seinen Schlaf.
Und füg es, dass mein liebes schwarzes Schaf
Sich dann und wann ein wenig weiß gebärdet.

Gib du dem kleinen Träumer das Geleit.
Hilf ihm vor Gott und vor der Welt bestehen.
Und bleibt dir dann noch etwas freie Zeit,
Magst du bei mir auch nach dem Rechten sehen.





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