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Mittwoch, 13. Juni 2012

Die Idee der Liebe ist der geistige Lichtstrahl, der aus der Unendlichkeit zu uns gelangt ist.


Aus einem Text Albert Schweitzers, den er 1965 für den Figaro schrieb:

Wer erkannt hat, daß die Idee der Liebe der geistige Lichtstrahl ist, der aus der Unendlichkeit zu uns gelangt, der hört auf, von der Religion zu verlangen, daß sie ihm ein vollständiges Wissen von dem Übersinnlichen biete. Wohl bewegt er die großen Fragen in sich, was das Übel in der Welt bedeute, wie in Gott, dem Urgrund des Seins, der Schöpferwille und der Liebeswille eins seien, in welchem Verhältnis das geistige und das materielle Leben zueinander stehen und in welcher Art unser Dasein vergänglich und dennoch unvergänglich sei. Aber er vermag es, sie dahingestellt sein zu lassen, so schmerzlich ihm der Verzicht auf die Lösung ist. In dem Wissen vom geistigen Sein in Gott durch die Liebe besitzt er das eine, was Not tut. "Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Erkenntnis aufhören wird", heißt es bei Paulus. Dieses Prinzip der Liebe versuchen wir in die Tat umzusetzen, indem wir den Leidenden in Westafrika helfen. Ein Beispiel: Wenn man mir einen jammernden Menschen mit einem entzündeten Blinddarm oder einem eingeklemmten Bruch bringt, dann lege ich ihm die Hand auf die Stirn und sage ihm:

"Sei ruhig. In einer Stunde wirst du schlafen, und wenn du wieder erwachst, ist kein Schmerz mehr."

Wenn die Operation vorüber ist, überwache ich in der dunklen Schlafbaracke das Aufwachen des Patienten. Kaum ist er bei Besinnung, so schaut er erstaunt umher und wiederholt fort und fort:

"Ich habe ja nicht mehr weh, ich habe ja nicht mehr weh!" Seine Hand sucht die meine und will sie nicht mehr loslassen. Dann fange ich an, ihm und denen, die dabei sitzen, zu erzählen, daß es der Herr Jesus ist, der dem Doktor und seiner Frau geboten hat, nach Gabun zu kommen, und daß weiße Menschen in Europa und Amerika uns die Mittel geben, um hier für die afrikanischen Kranken zu leben. Darauf muß ich auf die Fragen, wer jene Menschen sind, wo sie wohnen, woher sie wissen, daß die Eingeborenen so viel unter Krankheiten leiden, Antwort geben. Durch die Kaffeesträucher hindurch scheint die afrikanische Sonne in die dunkle Hütte. Wir aber, Schwarz und Weiß, sitzen nebeneinander und erleben es:

"Ihr seid alle Brüder."

Ach, könnten die gebenden Freunde in Europa und Amerika in einer solchen Stunde dabei sein!

veröffentlicht in Albert Schweitzer, Beiträge für Pädagogik, Schule und Unterricht

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