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Mittwoch, 4. Juli 2012

Dafür, wie Du die Knie biegst ... – Hans Magnus Enzensbergers "Kopfkissengedicht"

Ich mag diesen Mann, wie er zu seiner Vergangenheit steht, dazu, dass er sich Widersprüche erlaubt und Wandlung, wo andere top-lineares Verhalten erwarten, dass er anstelle von Memoiren, die 80-Jährige doch sonst herausgeben, seine Art von Memoiren Meine Lieblings-Flops nennt und von ihnen erzählt anstelle von Erfolgserlebnissen, weil er weiß, dass er, wie er selbst schreibt, nur wenigen Erfahrungen so viel verdankt wie ihnen; 
wie er mit Gefühlen umgeht, wie er ihnen als einer der Parade-Intellektuellen dieses Landes, zu dem ihn manche stilisieren wollen - ihre selbstverständliche Berechtigung gibt;
wie er dichtet und sich auf den Weg zur Liebe begibt - ich habe es schon in Befragung um Mitternacht bewundert,
das alles finde ich groß; 
und an dem folgenden Gedicht, das ich Liebesgedichte für Frauen, erschienen im Insel-Verlag, entnommen habe, finde ich bemerkenswert, dass nicht ein einziges Mal Liebe buchstäblich beim Wort genommen wird und sie doch in jedem Satz präsent ist - und wie! Für mich ist das wirkliche Kunst:


          Kopfkissengedicht

Dafür, dass du bis in die Fingerspitzen 
anwesend bist, daß es dich verlangt, 
dafür, wie du die Knie biegst 
und mir dein Haar zeigst, 
für deine Temperatur 
und deine Dunkelheit; 
für deine Nebensätze, 
das geringe Gewicht der Ellenbogen 
und die materielle Seele, 
die in der kleinen Mulde 
über dem Schlüsselbein schimmert; 
dafür, dass Du gegangen  
und gekommen bist, und für alles, 
was ich nicht von dir weiß, 
sind meine einsilbigen Silben  
zuwenig, oder zuviel.


Dieses Gedicht ist wie ein lang gespannter Bogen, an dessen Ende man doch, wie schon zuvor angedeutet, erwarten sollte, dass da nach den vielen dafür und für steht: für all das ........... liebe ich Dich. 

Nein, es steht etwas ganz anderes. Das lyrische Ich liebt nicht, jedenfalls steht das nicht da, sondern es spricht von seinen einsilbigen Silben. 
Für alles, was es, das Ich, der Mann, mit seiner Liebe erlebt hat, sind sie zuwenig.

Gut, das kann man noch verstehen.
Die ganz natürliche Bescheidenheit eines Mannes eben  :-))

Oder seine einsilbigen Silben sind zuviel.
Angemessener wäre es zu schweigen?

Kann wohl sein.

Was mich einfach beeindruckt, ist, wie das lyrische Ich seine Liebe zum Ausdruck bringt:

durch die Qualität dessen, was es beobachtet.

Wie es dadurch die Frau, die er, der Mann, liebt, im Licht der Liebe leuchten lässt.

Oder hat jemand schon mal darauf geachtet oder darüber geschrieben, wie eine Frau die Knie biegt?
Wie sie Nebensätze bildet?
Wie gering das Gewicht ihrer Ellenbogen ist?

Hat jemand schon einmal in der kleinen Mulde über dem Schlüsselbein ihre materielle Seele gefunden?

Wem solche Dinge auffallen,
wer diese so eigentlich unauffälligen, noch nicht gesagten Dinge so zärtlich im Tonfall anspricht:
der liebt.

Mit oder ohne einsilbige Silben.
Mit oder ohne Worte.



Danke jedenfalls, Hans Magnus Enzensberger, für Deine einsilbigen Silben.




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3 Kommentare:

Sunny :) hat gesagt…

Ich habe eine andere Interpretation zu diesem Gedicht. Viel mehr scheint das lyrische Ich doch den Liebesakt mit seiner Frau zu beschreiben (s. "für deine Temperatur"). Besonders die Verse "und die materielle Seele,
die in der kleinen Mulde
über dem Schlüsselbein schimmert" könnte doch für die Anstrengung stehen. So könnte man das Schimmern in Bezug auf Schweiß setzten. Oder der Vers "wie du die Knie biegst" könnte ebenfalls auf eine sexuelle Stellung bezogen sein. Alles in allem kam ich zu einer solchen Interpretation des Gedichtes und frage mich jetzt, ob ich zu sexistisch denke, oder ob man diese Deutung ebenfalls in Betracht ziehen könnte.

Johannes G. Klinkmüller hat gesagt…

Hallo Sunny,

Du wirst doch bitte nicht wegen meiner Sichtweise Dein Denken als womöglich sexistisch ansehen ... :-)
Ich finde ja auch, dass viel Liebe und Körperlichkeit in der Luft liegt; immerhin spricht Enzensberger ja auch davon, dass es sie verlangt und dass sie ihm ihr Haar zeigt ...

Der Schluss klingt dann, finde ich, anders ...

Ich habe nochmal nachgeguckt; André Heller hat das Kopfkissengedicht in seine Auswahl "Liebesgedichte an Frauen" aus den 2008 erschienenen Liebesgedichten von Hans Magnus Enzensberger aufgenommen. Da war Letzterer 78 oder 79 Jahre (wobei das Gedicht viel früher entstanden sein kann).
Leider hab ich gar keine biographischen Anhaltspunkte über seine Beziehungen, ob er verheiratet war, ob seine Frau noch lebt etc. (davon abgesehen, dass ich gut finde, wenn er sich da bedeckt hält).

Warum vor allen Dingen überschreibt er das Gedicht "Kopfkissengedicht" ??
Das hat mich am meisten dazu veranlasst, es so zu sehen, wie ich es geschrieben habe.

Ich würde vorschlagen, Du bleibst bei Deiner Sicht - und wie auch immer man es sieht: vielleicht findest Du es auch wunderschön und ganz empfindsam geschrieben ... das finde ich die Hauptsache :-))

Liebe Grüße,
Johannes

Sunny :) hat gesagt…

Ich für meinen Teil finde das Gedicht wirklich wunderschön trotz meiner Ansicht. Vor allem weil er es doch schafft, verschiedene Interpretationen entstehen zu lassen. Danke für deine schnelle Antowrt, hat mich nömlich sehr interessiert, wie jemand über meine Deutung denken könnte :)
Liebe Grüße zurück