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Mittwoch, 1. August 2012

Erschreckend, wie substanzlos und unwissend die zeitgenössische Ethik ist, z.B. Peter Singers "Praktische Ethik"

Kennen Sie Prokrustes? Es ist jener Unhold aus Griechenland - Theseus bereitete ihm Gott sei Dank den Garaus -, der einkehrende Wanderer durch Verstümmelung oder Streckung mit dem Hammer in eine Bettstelle einpasste.
Was Prokrustes mit Peter Singer zu tun hat?
Lesen Sie Peter Singers "Praktische Ethik" - ein Paradebeispiel dafür, wie der Verstand des Menschen zum Prokrustes-Bett wird. Alles wird passend gemacht, das Bettgestell heißt ratio, die Matratze heißt intellektuelles Ego.
Besser noch: Lesen Sie dieses Buch nicht, ernsthaft empfehlen kann man es jedenfalls niemandem. So viele Prokrustes-Grausamkeiten habe ich selten erlebt. Dass sich dabei gedankliche Geschmacklosigkeiten einschleichen, ist eine andere Sache. Oder wie finden Sie die Aussage:
Tötet man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling, so vereitelt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben. (S. 123)
Mit Wünschen dieser Art meint Singer Wünsche für die Zukunft, die rationale und selbstbewusste Wesen zu haben in der Lage sind; diese nennt er Personen. Wer mehr darüber lesen will, findet die entsprechenden Aussagen in Singers Kapitel "Warum ist töten unrecht?"
Den Ausführungen mag man, wie auch immer, folgen, aber was mich allein an diesem Satz schockiert, ist die Tatsache, wie hier auf gleicher Höhe von einer toten Schnecke und einem toten Säugling gesprochen wird. Noch immer würde es mir leichter fallen, eine tote Schnecke läge neben mir als ein toter Säugling. Im Denken Singers ist das nur konsequent gleich. Ich wünsche einer Schnecke auch nicht den Tod. Dennoch gibt es für mich Unterschiede. Dass es sie nicht gibt in Bezug auf die beiden, diesem Tatbestand widmet Singer viele Seiten seines Buches. Konsequent streitet er die Heiligkeit des Lebens, des menschlichen Lebens ab.

Nichts gegen seinen Einsatz für den Wert tierischen Lebens, auch für die zwanghaften Beweise, dass Primaten ein so wertvolles Leben wie Säuglinge und geistig Behinderte haben, weil sie in die Zukunft denken können und bewusst leben; das belegt Singer mit Untersuchungen und Beispielen, um dann zu dem Ergebnis zu kommen:
So scheint es, daß etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines menschlichen Wesens, welches aufgrund einer angeborenen geistigen Behinderung keine Person ist und nie sein kann. (S. 156)
Welchen Stellenwert er einem zeitgenössischen amerikanischen Philosophen namens Michael Tooley einräumt, der sich damit auseinandersetzt, dass ein Baby nicht ein Recht auf Fortsetzung seiner Existenz haben könne, weil es noch kein Interesse am Leben gehabt habe, das ist schon bemerkenswert und für mich erschütternd; erschütternd sind solche Sätze, die Singer in der Nachfolge Tooleys in diesem Zusammenhang ablässt:
Hätte der Zug das Baby auf der Stelle getötet, so hätte der Tod nicht im Gegensatz zu den Interessen des Babys gestanden, weil es eben nicht eine Vorstellung von der Existenz in der Zeit gehabt hätte. (S, 132)
Solche Sätze finden sich immer wieder, wobei immer wieder auf verdruckste Weise unklar bleibt, inwieweit sich Singer mit ihnen identifiziert, und man mag verstehen, warum es mir zum Teil schlecht wurde.
Klar kann man solche Sätze denken, klar kann man sie einfach einen amerikanischen Philosophen denken lassen und sich hinter dessen Denken verstecken, aber das soll die Praktische Ethik sein, die sich bemüht, eine Richtschnur für ethisch verantwortliches Leben zu geben?

Zwei Punkte sind mir noch viel wichtiger, die Singers Ethik ad absurdum führen:

Gewiss müssen Liebe, Herz und Gefühl in einer Praktischen Ethik nicht im Vordergrund stehen, aber so ausgespart, wie sie in diesem Werk sind, das ist schon unglaublich. Ich zähle nicht nach, mir ist die Zeit zu schade, aber das Wort Liebe kommt vielleicht fünf- oder sechsmal vor (Herz, glaube ich, einmal), allerdings nicht in argumentativem Zusammenhang, sondern z.B. als Zitat ("Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst").

Wie sehr eine moderne Ethik ohne Liebe auskommt, das war mir nicht bewusst. Dass sie allerdings auch auf die Gefühle der Menschen verzichtet und deren Bedeutung, das ist schon fahrlässig.
Spätestens seit D. Golemans Buch über "Emotionale Intelligenz" ahnt doch auch der Gefühlslaie, dass Gedanken über Leben, die den Gefühlsbereich aussparen, am Leben vorbeigehen. Man muss nicht im Extrem A. Webers Gedanken in "Alles fühlt" teilen, aber dass alles, was wir tun, an Gefühle gekoppelt ist - auch unser Denken (!!!) - das hätte sich bis Australien und zu Peter Singer durchsprechen können.
Für ihn spielen Gefühle im Leben der Menschen, in einem ethischen Leben - er spricht von einem Leben, das den ethischen Standpunkt einnimmt - keine Rolle.
Dass er manches, was er geschrieben hat, so gefühllos schreiben kann, das hat mich stellenweise fassungslos gemacht, fassungslos, dass sich Intellekt so verselbständigen kann, dass der Gott Onan über so viel intellektuelle Selbstbefriedigung seine helle Freude gehabt hätte.
Das ist das eine. Peter Singer schreibt wie zu Zeiten Kants, völlig ohne Gefühl. Ohne Gefühle mit einzubeziehen. Das geht nicht, ihr Aussparen kostet Energie, die auf Kosten der Wahrheit geht. Immer. Schon immer.
Übrigens: Intuition bezieht Singer, indem er sich auf einen Kollegen bezieht, durchaus ein. Immerhin.

Zumindest in der Neufassung seiner Praktischen Ethik hätte Singer berücksichtigen können, dass - und das ist ein weiterer wichtiger Punkt - die moderne Hirnforschung uns die Ratio, den ach so heiß geliebten Verstand, mehr als relativ sehen lässt, gibt es mittlerweile doch genug Belege, die aufzeigen, dass dem, was wir als bewussten Akt ausgeben, in aller Regel bereits in unserem Gehirn Prozesse vorausgehen, die aus den Bereichen des Unbewussten kommen. Ein Polizist, der sich also für Folter entscheidet, um ein Menschenleben zu retten und ein Geständnis zu erpressen, wird zwar im Nachhinein rationale Gründe anführen und anführen müssen; allerdings: seine Entscheidung fiel intuitiv, unbewusst; das wissen wir schon einige Zeit, Herr Singer. So geht es auch Ihnen, wenn Sie ein Buch schreiben, auch wenn alles superrational klingt.

Indem also Singer auch den Bereich des Unbewussten und die moderne Gehirnforschung ausspart, schiebt er uns auf eine Zeitstufe, auf der wir z.B. wiederum dem guten Kant die Hand schütteln können, uns weismachend, alles sei per Verstand erkenn- und erklärbar; immer mehr weist uns die moderne Forschung darauf hin: genau das ist es nicht. 
Dem guten Kant kann man keinen Vorwurf machen. Freud, Jung und unser ganzes Bewusstsein über die Bedeutung des Unbewussten waren noch nicht erforscht, es hatte noch keine moderne Hirnforschung gegeben, keinen Spitzer und sein Selbstbestimmen, keinen Benjamin Libet und sein Mind Time, keine Roth/Grün und ihr Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie. Vergleichbares scheint Singer nicht gelesen zu haben, bei den alten Haudegen seines so geliebten Utiliitarismus dagegen kennt er sich bestens aus, die zitiert er immer wieder.
Mit Singer gibt sich jemand en vogue, für den Gefühle, Herz und Liebe an keiner Stelle seiner Ethik eine Rolle spielen, eine inhaltliche Dimension gewinnen; da kommt einer her, der die ganze moderne Gehirnforschung ausspart und uns weismachen will, dass das, was er schreibt, neuester Stand der Erkenntnis sei ...
Und das Schlimme finde ich: Diese Menschen prägen auch das Bild der zeitgenössischen Ethik in Schulbüchern; dort geht es im Oberstufenbereich genauso abstrakt und substanzlos zu.

Man sollte einfach nur das letzte Kapitel in Peter Singers Buch lesen, wo sich der gute Professor an den Fragen "Warum moralisch handeln?" und "Hat das Leben einen Sinn?" versucht.
Das muss man gelesen haben, um zu wissen, wie tief Ethik gesunken ist, die sich vor allem an den Interessen der Menschen orientiert, an mehr nicht mehr.
Auf den letzten Seiten versucht Singer verzweifelt, Sinn für das menschliche Leben zu finden. Um das zu erreichen, vergleicht er das Leben des Normalbürgers mit dem eines Psychopathen - auf Details verzichte ich.
Er schreibt auf dem Höhepunkt seiner Sinnfindung:

Evolutionär gesprochen, könnten wir sagen, daß das Glück als innere Belohnung für unsere Leistungen fungiert. Subjektiv betrachtet bedeutet für uns das Erreichen des Ziels (oder Fortschritte zu ihm hin) einen Grund, glücklich zu sein. Unser eigenes Glück ist daher ein Nebenprodukt des Strebens nach etwas anderem und nicht dadurch zu erlangen, daß wir unseren Blick allein auf das Glück richten.Das Leben des Psychopathen läßt sich nun - verglichen mit einem normalen Leben - auf eine andere Weise als sinnlos verstehen. Es ist sinnlos, weil sein Blick nach innen auf die Vergnügungen des gegenwärtigen Augenblicks gerichtet ist, und nicht nach außen auf etwas Langfristigeres oder Weiterreichendes. Das Leben normalerer Menschen hat Sinn, weil es auf ein umfassendes Ziel hin gelebt wird. All dies ist spekulativ [...] (S.420ff)

Nach der Lektüre des Buches mag sich niemand verwundern, dass Singer das Entscheidende nicht benennt, nämlich worin der Sinn und die Ziele bestehen, was Langfristigeres und Weitreichenderes sein könnte. Er belässt es bei seinem Hinweis auf den sogenannten ethischen Standpunkt, der darin besteht, über seinen eigenen Standpunkt hinauszugehen, den Standpunkt eines überparteilischen Beobachters einzunehmen, wie er schreibt. Auch hier ist Singer freilich mehr als altbacken, denn seit den Ergebnissen der Quantenphysik und ihrer mit ihr einhergehenden Philosophie wissen wir, dass es den Standpunkt außerhalb, den überparteilischen nicht mehr gibt. Jeder ist Teil des Experimentes Leben, auch wenn er sich den intellektulellen Gestus geben möchte, den Singer sich gibt.
Unverbindlicher als Singer kann man - das ist kein Wunder - ein über 400 Seiten langes Buch über praktische Ethik kaum beenden:
Auf die Frage »Warum moralisch handeln?« läßt sich keine Antwort geben, die jedem überwältigende Gründe für moralisches Handeln liefert. Moralisch nicht vertretbares Verhalten ist nicht immer unvernünftig. Wir werden wahrscheinlich immer die Sanktionen des Gesetzes und des gesellschaftlichen Druckes brauchen, um zusätzliche Gründe gegen ernsthafte Verletzungen ethischer Anforderungen vorzubringen. Diejenigen andererseits, die nachdenklich genug sind, um die in diesem Kapitel erörterte Frage zu stellen, werden am ehesten die Gründe anerkennen, die sich für das Einnehmen des ethischen Standpunkts anführen lassen.

Wir werden immer den Druck des Gesetzes brauchen? 

Was zu solch platter Verallgemeinerung ein Albert Schweitzer, ein Gandhi, ein Martin Luter King und jeder Mensch, der sich von Herzen bemüht, sagt?


Platter geht´s nimmer.

Diese Praktische Ethik ist praktisch wertlos.

Und das Schlimme ist, dass Michael Ende in seiner Unendlichen Geschichte das, was Peter Singer hier treibt, genau erfasst hat, indem er die Kindliche Kaiserin krank werden lässt. Sie symbolisiert die Herzkraft des Menschen. Doch sie siecht dahin, keiner kann ihr helfen, kein Arzt Phantasiens.
Und wie sich die Krankheit äußert: Da, wo einst etwas da war, wo einst Phantàsien war, ist zunehmend Nichts. Und dieses Nichts breitet sich aus. Dieses Nichts ist die intellektuelle Krankheit eines Peter Singer, was er verbreitet, ist das Nichts, Herzlosigkeit, die Sinnlosigkeit des kalten Intellekts.

Mit den Worten aus der Unendlichen Geschichte:
"Es ist", fiel der Winzling ein, "als ob man blind wäre, wenn man auf die Stelle schaut, nicht wahr?""Das ist der richtige Ausdruck", rief (das Irrlicht). "[...] die Stelle wurde nach und nach größer immer größer. Irgendwie fehlte immer mehr von der Gegend. (...) diese Stellen machen sich breit [...] Manche haben sich sogar absichtlich hineinfallen lassen, wenn sie dem Nichts zu nahe gekommen sind. Es übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die umso stärker ist, je größer die Stelle ist." (23)
Ja, mir macht das Sorge. Diese Art von Singerscher Sinnlosigkeit breitet sich immer mehr auch in der Schule aus.

Die Zitate sind entnommen aus Peter Singer, Praktische Ethik, Ditzingen 2010

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Klinkmüller,

ich möchte mich nur kurz zu Ihrem Blogg über Peter Singers Ethik äußern. Ich verstehe Ihre Erschütterung über die vermeindliche Legitimierung der Kindstötung, glaube aber, dass Sie Herrn Singer gründlich mißverstanden haben. Zum einen spricht er sich nicht dafür aus, dass Menschen getötet werden, sondern dafür, dass Nicht-Menschen nicht getötet werden. Er hat auch in verschiedenen Interviews angegeben, dass es neben den völlig klaren Gemeinsamkeiten zwischen Neugebornenen und Schnecken, nämlich der Unfähigkeit, sich selbst als zukünftige Entität zu denken und diese zukünftige Existenz zu erstreben (darum geht es bei dem Vergleich mit der toten Schnecke), den gewichtigen Unterschied gibt, dass das Neugeborene Eltern besitzt, die sehr wohl ein Interesse daran haben, dass es auch weiterhin existiert. Genau hier liegt Ihre Verwechslung. Für das Neugeborene ist es eben weniger schlimm, getötet zu werden, als das etwa für einen Schimpansen wäre, weil das Neugeborene eben noch kein vollständiges Bewusstsein seiner selbst hat. Natürlich ist es schlimm, von toten Neugeborenen zu reden und zu denken. Es ist aber schlimm für uns, die wir eben das Potenzial des Kindes sehen, die Liebe seiner Eltern verstehen usw.. Für das Neugeborene selbst ist es das eben auf Grund seiner Wahrnehmung nicht in dem Maße. Hier wird der eigene, reflektierte, emotionale und mitfühlende Blickwinkel mit dem des Neugeborenen verwechselt. Natürlich will Singer keine Neugeborene töten sondern einzig und allein darauf aufmerksam machen, dass man eben mit Tieren, die im Vergleich zu schwer geistig Behinderten oder Neugeborenen viel eher den Status einer bewussten Person mit Zielen und Wünschen verdienen, nicht so umgehen darf, wie es zur Zeit der Fall ist. Eine derartige Ausweitung des moralischen Horizonts über die Grenzen der menschlichen Gattung hinaus ist durchaus zu begrüßen und ist auch einer der Moral verpflichteten Lebensform wie der des Menschen mehr als würdig.

mit freundlichem Gruß,

L.

Johannes G. Klinkmüller hat gesagt…

Danke für Ihren Kommentar!
Ich möchte gern antworten, im Moment geht es zeitlich nicht. Vielleicht können Sie um die Osterzeit nochmal reinschauen, bis dahin werde ich es geschafft haben :-))
Freundliche Grüße,
Johannes Klinkmüller

Johannes G. Klinkmüller hat gesagt…

Ich sehe gerade, dass ich es vergessen habe, L zu antworten.

Ich hätte jedenfalls damals darauf verweisen wollen, dass man gewiss Singers Aussagen schönreden kann. Wenn man aber das Buch liest, differenziert er keineswegs so, wie das der Kommentator quasi stellvertretend tut, sondern Singers Aussagen sind - jedenfalls für mich - in ihrer Gefühlskälte nach wie vor in höchstem Maße ethisch instinktlos; die angeführten Stellen belegen das zur Genüge.

Nicht von ungefähr hat er ja mittlerweile in Bezug auf einige seiner Positionen einen mehr oder weniger deutlichen Rückzieher gemacht.

Dass man überhaupt in der Art, wie er es immer wieder in seinem Buch tat, schreiben kann, ist für mich heute noch ein Rätsel.