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Mittwoch, 5. September 2012

Macht Schule dumm? – Richard David Precht und Gerald Hüther im ZDF-Gespräch.

Was für eine Frage! Natürlich macht Schule dumm. 
Immerhin haben der Bestseller-Autor und Philosoph Richard David Precht und der Neurobiologe und Buchautor Gerald Hüther trotz ihrer Dummheit, erzeugt durch ihre Schulbildung, das heißt, wie uns Precht wissen lässt, von den falschen Leuten nach den falschen Methoden in den falschen Dingen unterrichtet worden zu sein, es bis ins ZDF geschafft – was allerdings kein Ausweis für Klugheit ist.
Dass Schule womöglich gar nicht dumm macht, aber erfolgreich sein zu wollen, blind für die Realität, das könnte wohl so sein, wenn man den beiden knapp 43 Minuten gelauscht hat.
Eigentlich schade, dass der von vielen hoch gelobte Precht sich wider besseres Wissen nicht scheut, seinen Talk so zu eröffnen:
An unseren Schulen werden die Kinder von den falschen Leuten nach den falschen Methoden in den falschen Dingen unterrichtet.
Fehlt eigentlich nur noch, dass die falschen Kinder so unterrichtet worden sind.

Und Professor Dr. Gerald Hüthers erste Aussage daraufhin: Eine Katastrophe.
Seltsam, seltsam, wo Hüther doch z.B. an dem Thüringer Projekt hi.bi.kus, bei dem 18 Kindergärten und 15 Schulen mitmachten, federführend beteiligt war. War das auch eine Katastrophe?

Ja, eine Katastrophe ist es, wenn zwei "Gelehrte" sich in Pauschalurteilen ergehen. Ob das an der Schulbildung liegt? Oder wollten sich da zwei auf Kosten anderer profilieren?

Dabei hat sich Precht am 18. Juli diesen Jahres mit dem Journalisten und Erziehungswissenschaftler Reinhard Kahl in den Münchener Kammerspielen unterhalten, jenem Mann der den Begriff vom Bulimie-Lernen geprägt hat.
Jener Reinhard Kahl gründete 2007 mit 30 anderen Leuten das Archv-der-Zukunft - Netzwerk, deren erster Vorsitzender er wurde. Diese Plattform nun ist genau ein Beleg dafür, dass Schule auch in Deutschland lebendig sein kann und lebendig ist. Precht wird sie sehr wohl kennen!
Sehr berührend finde ich auf dieser Plattform den Video-Beitrag zum Tode des Hauptschullehrers Franz Gresser, der mit seiner sechsten Klasse unterwegs war, vom Fahrrad stieg und aufhörte zu leben. Als Lehrer wollte er Gastgeber für seine Schüler sein und war es auch.
Solche Lehrer und Lehrerinnen gibt es immer wieder. Und diese Plattform Archiv der Zukunft berichtet von vielen guten Projekten.
Wie hilfreich ist es da, wenn Schule in Bausch und Bogen verdammt wird? Wie geht man dadurch mit solchen Leuten wie Franz Gresser um, den Lehrern, die Theater-AGs leiten, mit ihren Schülern am Wochenende in die Berge zum Klettern gehen, den Schulgarten anlegen, eine Schnitz-AG leiten, ihren Unterricht ideenreich vorbereiten?

Gewiss, das finde ich auch, muss vieles an der Schule verändert werden. Es liegt nicht einmal so sehr an den Klassengrößen, sondern an den stumpfsinnigen Lehrplänen und an dem zwanghaften Glauben, Schüler müssten z.B. ein bis zweimal durch die Weltgeschichte gejagt worden sein, damit sie des Abiturs würdig sind. Dieser schreckliche Glaube an das Quantitative, dieses ständige Verwechseln von Maximum mit Optimum, was sich in unserem Bildungs-System Ausdruck verschafft, ist mit schuld an dem Tod der Lernfreude bei vielen Kindern.
Wir müssen nicht alles gelernt haben ... Und das Traurige ist, dass die Schüler gerade die aktuellen Entwicklungen nicht mitbekommen. Ich z.B. finde die Entdeckung der Spiegelneuronen phänomenal wichtig. Sie ist jetzt sicherlich gut und gerne zwanzig Jahre her. Aber Oberstufenschüler kennen sie nicht, wenn ich nachfrage. Dabei wäre es so wichtig, von diesen Neuronen zu wissen, gerade, wenn sie selbst einmal Kinder erziehen.

Jeder weiß, dass kaum ein Jugendlicher nach der Schulzeit mehr eine Ahnung vom Mittelalter hat. Wenn aber Schüler im Unterricht einen mittelalterlichen Gerichtstag gestaltet und gespielt haben (zu einer solchen Unterrichtseinheit gibt es einen wertvollen Film - zumindest habe ich ihn vor vielen Jahren gesehen), dann werden sie sich zeitlebens daran erinnern und auch wissen, was das Leben und das Gerichtswesen damals auszeichnete; sie werden einiges über das Mittelalter behalten, weil sie die Bilder und ihr eigenes Arbeiten, ihr Schreiben von Texten, ihr Mitinszenieren nie vergessen werden (diese Unterrichtseinheit ist übrigens an einer ganz normalen Schule von richtigen Schülern mit falschen Lehrern durchgeführt worden).

Diese Lebendigkeit, dieses Leben fehlt unserer Schule noch zu oft – das heißt, auch die richtige Mischung. Denn keine Frage: Jeder weiß, wie schnell und gut er in der Schule Sprachen gelernt hat ... und das war immer wieder auch Pauken (der Ministerpräsident Baden-Württembergs Winfried Kretschmann liest noch heute in seinen Griechenland-Urlauben die Odyssee – auf Alt-Griechisch!); später ist man dankbar, dass die Englisch-Lehrerin endlos die falschen Formen korrigierte ... das war selten spaßig.
Aber die Mischung muss stimmen.

Ich finde, dass in diesem Zusammenhang Gerald Hüther Bemerkenswertes und bemerkenswert Richtiges gesagt hat:

Eine unserer großen Irrtümer möglicherweise dieses gegenwärtigen Bildungssystems besteht vielleicht darin, dass wir gedacht haben, dass man etwas lernen kann ohne dabei Gefühle zu haben; das ist alles altes Denken(...) Die neue Botschaft heißt – und die ist dann für viele natürlich ein bisschen unbequem –, man kann im Hirn nachhaltig nur dann etwas vernetzen, neue Strukturen aufbauen, wenn es einem unter die Haut geht.
(...) was in der Schule an Wissen vermittelt wird, (..) das wird entschieden an der Frage, ob das diesem Jungen oder diesem Mädchen gelungen ist, in diesem Schulsystem seine Leidenschaft zu behalten. (...) Wir haben ja noch bis vor wenigen Jahren geglaubt, dass einmal im Hirn entstandene Strukturen sich auch nicht ändern können und jetzt sage ich Ihnen, das geht. Aber es geht nicht von allein, sondern im Hirn muss was dazukommen, das nennt man Begeisterung, Leidenschaft, emotionale Aktivität, und in einer Gesellschaft, wenn da was passieren soll, wird das nicht mit Argumenten gehen, auch nicht, indem man die Köpfe der Politiker austauscht, sondern indem in dieser Gesellschaft, in diesen Menschen wieder so etwas wie Leidenschaftlichkeit erwacht. (...)

Nachdrücklichst waren seine Beispiele, die er aus Shanghai berichtete und den dortigen Pisa-Siegern. Dort springen immer mehr Kinder, die 16 Stunden täglich lernen, von Brücken, ja, sie bringen mittlerweile sogar ihre Eltern um - aus Verzweiflung.

Wollen wir das?
Gewiss nicht.
Aber es bringt uns keinen Deut weiter, wenn Schule verunglimpft wird, in Bausch und Bogen verdammt wird.
Übrigens finde ich klasse, dass so viele Eltern so vernünftig sind und zurück zu G9 wollen. Wie gut, wenn Kinder in Ruhe reifen können ...
Wie gut, dass die Eltern vernünftig bleiben, wenn es die Bildungspolitiker nicht sein können ...

Schule ist ein Netzwerk des Lernens, ein Netzwerk der vielfältigsten Erfahrungen.
Da prägen leider auch Erfahrungen, wenn Lehrer Kinder verletzen; aber es gibt eben auch die Erfahrung, dass ein Lehrer sieht, dass es einem Kind nicht gutgeht und er nachfragt und das Kind auf einmal losweint und er sich mitten im Unterricht Zeit nimmt und mit ihm hinausgeht ...
Wenn Kinder also erleben, wie ein Erwachsener sein Herz lebt, das ist prägend, ist viel wertvoller, als dass wir  jeden AcI absolut korrekt übersetzen.

Ich finde auch, dass Precht auf Richtiges hingewiesen hat, wenn er z.B. darauf aufmerksam macht, dass Referendare ihren Unterricht nach Zeitschema minutengenau entwerfen müssen und das eigentlich genau geplant ist, was sie zu sagen haben und welche Antworten sie erwarten.
In der Tat ist es so, diese Erfahrung habe ich als Referendar auch gemacht, dass, wenn man von seiner eigenen Vorgabe abweicht, man von der Gnade seines Fachleiters abhängig ist, ob der diese Abweichung akzeptiert oder nicht.
Es gibt in der Tat viele überholte Dinge in der Schule, die es zu verändern gilt.
Aber doch nicht mit Hilfe dieser Verdikte, wie Precht und Hüther sie vom Stapel lassen und sich noch toll vorkommen. Schule ist durchaus etwas Gewachsenes. Sie gehört zu unserer Vergangenheit.
Eigentlich hätte ich erwartet, dass Hüther Precht gleich zu Anfang widerspricht oder ihn korrigiert; stattdessen hat er ihn bestätigt.

Precht kündigte Hüther zudem an mit einem Satz, den jener offensichtlich gesagt hat: Vergesst unser völlig veraltetes Schulsystem.

Was für eine Art von Umgang mit unserer individuellen und gesellschaftlichen Geschichte, mit unseren Erinnerungen, mit unseren Erfahrungen, aus denen wir für die Gegenwart und Zukunft lernen! 
... vergesst eure alten Eltern ...
... vergesst eure alten Lehrer ...
... vergesst die Sprossen unter euch, geht auf der Leiter einfach nach oben ...

Wenn das unser von Bildungsexperten empfohlenes neues Bewusstsein ist, unser Umgang mit unserer Geschichte, unseren Erfahrungen, dem, auf was wir gewachsen sind, dann gute Nacht!

Wie bitte sollen die Kinder dieses Richard David Precht jemals ihren Lehrern mit Respekt und Wertschätzung begegnen? Wie sollen sie bei diesen Losern, die ihre Lehrer laut Vater nunmal sind, lernen können? Wo sie doch bei den falschen Lehrern mit den falschen Methoden sind, die sie in den falschen Dingen unterrichten?
Was für eine Verantwortungslosigkeit von diesem Vater.
Hoffentlich werden seine Kinder nicht so arrogant.
Ob an seiner Arroganz auch die Schule schuld ist?

PS: Wer den hier verlinkten Artikel über die Schule, die den Deutschen Schulpreis 2012 erhalten hat, liest, kann sich nur freuen über solche Entwicklungen; das macht Mut!

2 Kommentare:

Franz Josef Neffe hat gesagt…

Nicht LERNEN macht dumm sondern UNTERRICHTETWERDEN. Unterricht richtet nach unten. Im Unterricht übt man unten, sich nach denen oben zu richten.
In unseren Schulen wird nicht gelernt sondern LERNEN durch Unterricht vereitelt. Unsere SCHULEN sind auch das gerade Gegenteil von Schule und die Lehrer dort sind KEINE LEHRER sondern als Lehrplanvollzugsbeamte angestellt. Sie vermitteln, bringen bei und drängen dazu, sich zu unterwerfen, einzufügen und mitzumachen. Eben dadurch machen sie LERNEN zunichte. LERNEN bedeutet: eine Fährte des Lebens verfolgen, eigene Erfahrungen sammeln.
Dass Hüther und Precht gemeinsam aufzeigen, was unerträglich ist und wo es in Richtung LÖSUNG gehen könnte, ist doch schon mal was. Als Ich-kann-Schule-Lehrer tät ich dann noch in den TV- und Zeitungsredaktionen Herkunftswörterbücher anregen; dann wissen wir womöglich bald, was wir sagen, und können das, was wir tun damit neu überdenken. Guten Erfolg!
Franz Josef Neffe

Johannes G. Klinkmüller hat gesagt…

Hallo Herr Neffe,

leider tun Sie genau dasselbe, was Precht und Hüther taten: Sie pauschalisieren.

Es steht ganz außer Frage, dass vieles in unserem Schulsystem verbessert werden muss, aber zu schreiben, dass Lernen durch Unterrichten vereitelt wird, das ist genau das pauschalisierende Bewusstsein, das uns viel langsamer vorwärtskommen lässt, als möglich wäre.

Leider sind Erwachsene mit solch einer undifferenzierten Einstellung Bremsklötze für eine schnellere positive Veränderung.

Mit den Kindern des Jahrgangs 7 unserer Schule sitze ich in Ethik im Kreis und wir sprechen derzeit über das Erwachsen-Werden. Ohne dass ich in irgendeiner Form bewerte, was sie sagen, erzählen die Kinder über sich und ihre Familie und das, was sie erleben und wie sie sich Erwachsene wünschen. Ich glaube, die Schülerinnen und Schüler würden ganz befremdet gucken, wenn sie Ihre Behauptung zu Ohren bekämen, sie würden hier gedrängt werden, sich zu unterwerfen.
Ein typischer Erwachsener ... weiß alles besser, würden sie womöglich denken ...

Und diese Runde ist kein Einzelfall in unserem Land.

Also bitte, hören Sie auf zu pauschalisieren, womöglich auch deshalb, um Ihr Ich-kann-Schule-Lehrer-Projekt herauszustellen - auf Kosten anderer.
Auf dieser seelischen Grundlage kann es keinen Erfolg haben.