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Dienstag, 2. Oktober 2012

Sogenannte Heilige, Scheinheilige und zwei Gebete, die zu Herzen gehen.


Den gestrigen Post bzw. die Worte Pfarrer Brochs habe ich mir ausgedruckt, ausgeschnitten und in mein Exemplar von Der Joker geklebt, um sie heute meiner Klasse, mit der ich gerade dieses Buch lese, vorzulesen anlässlich einer Stelle darin, die genau zu den Worten Michael Brochs von gestern passt:

Ed, der Protagonist aus Der Joker bekommt bekanntlich Karten zugespielt von einem großen Unbekannten, und jede Karte ist mit einer Aufgabe verbunden. Auf einer stand O´Reilly. Und Ed fndet tatsächlich den O´Reilly, um den es geht. Es ist ein Priester, dessen Behausung dem Wort grauenhaft eine ganz neue Bedeutung verleiht, denn:
O´Reilly ist ein Armenpriester, ähnlich wie Abbé Pierre, den Michael Broch erwähnte. O´Reilly wohnt nicht neben seiner Kirche, sondern inmitten der Underdogs dieser Stadt; ganz nah will er ihnen sein. –
Ed gesteht ihm offen, dass er noch gar nicht wisse, warum er bei ihm ist.
Unser Protagonist kennt noch nicht seine Aufgabe, die sich mit diesem Geistlichen verbindet, allmählich aber dämmert sie ihm und er weiß, er will dieses Priesters Kirche an einem Sonntag bis zum letzten Platz füllen.
Tatsächlich schafft er es, mit Graffiti, nachts illegal angebracht:


Tag der offenen Kirche
Sonntag 10.00 Uhr
St. Michael-Kirche

Essen, Gesang, Tanz
und FREIBIER

Kommt alle oder ihr verpasst
eine TEUFLISCH gute Party!

:-))

Weshalb ich diesen Post schreibe: 
Am Abend vor diesem Sonntag kommt jener Priester Ed ganz unerwartet besuchen und er beginnt mit den Worten:

Ich muss dir etwas sagen, Ed, um dann mit berührenden Worten fortzufahren:

Weißt du, es gibt unzählige Heilige, die nichts mit der Kirche am Hut haben und auch von Gott kaum etwas wissen. Und Gott ist trotzdem mit diesen Menschen, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Du bist einer davon, Ed. Es ist mir eine Ehre, dich zu kennen.

Das ist die Stelle  um die es geht.
Auch wenn manche Kirche gern die allein seligmachende wäre: anima naturaliter religiosa - die Seele ist von Natur aus religiös, ganz ohne Konfession. 
Mancher Atheist, mancher Hinduist wird in sich ein Christusbewusstsein haben, um das mancher sogenannte Christ gar noch nicht weiß ...

Und was diese Textstelle mir auch noch vermittelt: Hier findet sich keine falsche Bauchpinselei, die nur darauf ausgerichtet ist, dass der andere sagt: Nein, nein, der Heilige sind doch Sie, ähnlich dem Gehabe und Gelaber der Hollunder-Freunde von Matthias Claudius ... nein, dieser Priester ist für einen Geistlichen ungewöhnlich ehrlich ... 
Und übrigens: in dem Wort ehrlich steckt das Wort Ehre ...

Dann kommt der Sonntag, und die Kirche ist proppenvoll, voll von Underdogs aus dem Viertel, auch Freunde von Ed sind anwesend, ebenfalls der Bruder O´Reillys, Ed hatte ihn eingeladen;
Letzterer spielt zu Beginn des Gottesdienstes zunächst auf seiner Mundharmonika. Und wir hören in den Erzählerbericht Eds hinein:

Danach spricht der Priester eine Zeitlang. Was er sagt, gefällt mir, auch die Art, wie er es sagt. Er redet nicht wie all die anderen Priester in ihren schmucken, reich dekorierten Kirchen, die nichts als gequirlte Scheiße von sich geben.

Dann kommt O´Reilly zum Ende seines Gottesdienstes:

Leute, ich werde jetzt beten, erst laut und dann still für mich. Ihr dürft jedes Gebet sagen, das ihr mögt oder das euch wichtig ist ...
Herr, ich danke dir. Ich danke dir für diesen glorrreichen Moment und für all diese großartigen Menschen. Ich danke dir für das Freibier ... Und ich danke dir für die Musik und die Worte, die du uns heute geschenkt hast. Vor allem aber Herr, danke ich dir, dass mein Bruder heute hier sein kann, und ich danke dir für einen ganz bestimmten jungen Mann, der eine ganz fürchterlich hässliche Lederjacke trägt ... Amen.

Damit war Ed gemeint, klar. Und der betet zum ersten Mal seit Jahren, vielleicht auch zum ersten Mal nach dem Tod seines Vaters, für sich:

Bitte, lieber Gott, mach, dass es Audrey gut geht. Und auch Marv und Richie und Ma und meiner ganzen Familie. Bitte nimm meinen Dad in deine Arme, und bitte, bitte hilf mir mit den Botschaften, die ich noch zu überbringen habe. Hilf mir, dass ich alles richtig mache ...


Ich weiß gar nicht, ob man dann überhaupt etwas falsch machen kann ... wenn man auf diese Weise unterwegs ist ...

"Jeder Weg, der dorthin führt, ist der richtige", sagt in Michael Endes Unendlicher Geschichte die Dame Aiuóla, Symbol der Großen Mutter, zu Balthasar am Ende seines Aufenthaltes im Änderhaus.
Genau so empfinde ich es auch. Der Weg zur Quelle des Wassers des Lebens - das ist mit "dorthin" gemeint - verläuft nie geradlinig. Wie Hänsel und Gretel müssen wir über das Hexenhaus. Wir verlaufen uns im Wald.

Der Weg der Wünsche ist nie gerade, hört Balthasar von Aiuóla.

Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass uns das bewusst ist, damit wir liebevoll mit uns umgehen können.

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