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Sonntag, 4. November 2012

Die Seele fliegt, soweit der Himmel reicht – Homo faber contra Philon von Alexandria und Eduard Mörike

Manchem mag die Überschrift meines Postes vom 13. Oktober – Vögelschwärme sind tanzende Galaxien, sind unsere Gedanken und Seelenflüge – reichlich mystisch vorgekommen sein, und mystisch bedeutet ja für den ein oder anderen (zu) entrückt, abgehoben, unbewiesen, irreal.

Nun, Mystiker, zu denen ich nicht die Ehre habe, mich rechnen zu dürfen, kümmern sich nicht um solche Wertungen. 
Auch Eduard Mörike nicht, der 21-jährig mystisch schrieb, dass seine Seele einem Kristall gleiche und er wahrnahm:

Die Seele fliegt, soweit der Himmel reicht.

Mörike bezog sich hier auf jenen existentiell wichtigen Moment zwischen Schlaf und Aufgewachtsein, kurz bevor –wie der junge Autor formuliert – der Tag "Die Purpurlippe, die geschlossen lag" durch seine "königlichen Flüge" vergessen macht.
Ein bemerkenswertes Gedicht, dieses An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang.

Reichlich mystisch, könnte man meinen - und doch so wahr, wie ich darzulegen versucht habe.

Wem kommt nicht als Dokument eines Menschen, der Mystik total ablehnt, Homo faber kurz nach seinem Flugzeugabsturz in der Wüste von Tamaulipas in den Sinn, lange, bevor sich uns am Schluss des Buches ein ganz anderer präsentiert; da ist er nicht mehr jener, der zu Anfang mystisch gleich weibisch gleich hysterisch setzt und dementsprechend "philosophiert":

Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt, mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Wieso Fügung? (...) Ich brauche, um das Unwahrscheinliche als Erfahrungstatsache gelten zu lassen, keinerlei Mystik. Mathematik genügt mir (...) Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas - klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz vor dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müsste man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich fürchten? Es gibt keine  urweltlichen Tiere mehr. Wozu sollte ich sie mir einbilden? Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir Leid; auch keine Dämonen, ich sehe, was ich sehe: die üblichen Formen der Erosion, dazu meinen langen Schatten auf dem Sand, aber keine Gespenster. Wozu weibisch werden? Ich sehe auch keine Sintflut, sondern Sand, vom Mond beschienen, vom Wind gewellt wie Wasser, was mich nicht überrascht (...) Wozu hysterisch sein? Gebirge sind Gebirge, auch wenn sie in gewisser Beleuchtung, mag sein, wie irgendetwas anderes aussehen, es ist aber die Sierra Madre Oriental, und wir stehen nicht in einem Totenreich, sondern in der Wüste von Tamaulipas, Mexiko, ungefähr sechzig Meilen von der nächsten Straße entfernt, was peinlich ist, aber wieso ein Erlebnis? Ein Flugzeug ist für mich ein Flugzeug, ich sehe keinen ausgestorbenen Vogel dabei, sondern eine Super-Constellation mit Motor-Defekt, nichts weiter, und da kann der Mond sie bescheinen, wie er will. Warum soll ich erleben, was gar nicht ist?

Wir wissen, wie viel dieser Homo faber erleben muss, damit sich seine enge Weltsicht - diese scheinbare Super-Constellation, die nicht von ungefähr hier abgestürzt ist – sprengt und seine weibliche Seite sich öffnen kann für eine neue Sicht auf das Leben.

Diese Sicht auf das Leben zeigt von alters her ein jüdischer Philosoph, der von 30 vor bis 40 nach Christus lebte, eben Philon von Alexandria, über die Seelenflüge der Weisen schreibend:

In Gedanken begleiten sie Mond und Sonne in ihren Umläufen, die Chöre der anderen Planeten und die Fixsterne; unten durch ihre Leiber an den Erdboden gebunden, verleihen sie jedoch ihren Seelen Flügel, so dass sie, über den Äther wandelnd, die Mächte bedenken, die sie dort finden.
zitiert nach Das geheime Wissen der Frauen. Ein Lexikon von Barbara G. Walker

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