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Sonntag, 14. April 2013

Die Menschen sind nicht so, wie sie sich geben! – Wie ein Blinder Menschen und vor allem ihre Stimmen wahrnimmt.

Eines der bemerkenswertesten Bücher, das ich je gelesen habe, ist Jacques Lusseyrans Das wiedergefundene Licht. Es erzählt die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand.
Das klingt jetzt nicht sonderlich ungewöhnlich; allerdings ist die Leistung Lusseyrans im Widerstand schon eine besondere, auch, wenn man weiß, dass, nachdem seine Widerstandsgruppe verraten worden war, er einige Zeit im Konzentrationslager Buchenwald verbringen musste und Gott sei Dank überlebte. Wie er jedoch seine Gruppe aufgrund seines inneren Hörvermögens lange Zeit vor Verrat zu bewahren vermochte, weil er Menschen aufgrund ihrer Stimme entlarven konnte, das ist bemerkenswert. – Nur einmal nahm er eine innere Mahnung nicht ernst genug ...
Atemberaubend erstaunlich und enttarnend ist es für mich, wie der spätere Universitätsprofessor für französische Literatur Menschen und ihre Umgebung als Blinder wahrnimmt. Auf einmal gewinnt man eine ganz andere Sicht auf Menschen, wenn man sie mit den Augen eines Blinden sieht. Ich habe an anderer Stelle schon mehr über und von ihm berichtet.
Leider wird das Buch zumindest in deutscher Übersetzung nicht mehr aufgelegt, es ist allerdings antiquarisch z.B. bei Amazon noch erhältlich.

Im Folgenden möchte ich einen Auszug bringen, der sich, wie bereits angedeutet, mit der Bedeutung der menschlichen Stimme beschäftigt, aber auch andere interessante Bemerkungen enthält. Lusseyran schreibt über die Wahrnehmungen des durch einen Unfall blind gewordenen Jungen:

Die Leute glichen nicht dem, was man mir über sie sagte. Vor allem waren sie keine zwei Minuten dieselben. Es gab wohl einige. Doch das war ein schlechtes Zeichen, ein Zeichen, daß sie nicht verstehen oder nicht leben wollten, daß sie an der Leimrute einer ungehörigen Leidenschaft gefangen waren. Und das sah ich ihnen sofort an, denn da sie ihr Gesicht unbeobachtet glaubten, konnte ich sie überrumpeln. Das sind die Leute nicht gewohnt, sie putzen nur ihr Äußeres heraus!

Ich vernahm die Stimme meiner Eltern an meinem Ohr oder in meinem Herzen - wo, ist ohne Bedeutung -, doch sehr nah. Und all die anderen Stimmen nahmen den gleichen Weg. Es ist verhältnismäßig leicht, sich vor einem mißliebigen Gesicht zu schützen: man braucht es nur fernzuhalten, es in der Außenwelt zu belassen. Dasselbe versuche man einmal bei den Stimmen; da will es nimmer gelingen!

Die menschliche Stimme erzwingt sich ihren Weg in unser Inneres, eben hier vernehmen wir sie. Will man sie richtig hören, muß man sie im Kopf und in der Brust vibrieren, in der Kehle nachklingen lassen, als ob sie für einen Augenblick die eigene wäre. Das ist sicher der Grund, warum Stimmen uns nicht täuschen.

Ich konnte die Gesichter nicht mehr sehen. Wahrscheinlich würde ich sie mein ganzes Leben lang nicht mehr sehen. Mitunter hätte ich sie gern berührt, wenn sie mir schön schienen.

Doch die Gesellschaft unterbindet sorgfältig solche Gesten. Übrigens untersagt die Gesellschaft überhaupt alle Gesten, die die Menschen einander näherbringen könnten. Sie glaubt zu unserem Besten zu handeln, uns vor den Zugriffen der Schamlosigkeit und der Gewalt zu schützen. Sie hat vielleicht recht: Menschen sind oftmals schmutzige Tiere. Doch kann ein blindes Kind die Gefahr schon erkennen? Es muß solche Tabus unbegreiflich finden.

Ich machte mir indes die Stimmen voll zunutze - ein Gebiet, in das die Gesellschaft nie ihre Nase gesteckt hat. Das ist übrigens recht verwunderlich. Während die Vorschriften der Menschen in Dingen des Körpers so heikel sind, sind sie doch nie auf den Gedanken gekommen, die Blöße der Stimmen zu bedecken, ihre Berührung einzuschränken. Offenbar haben sie nicht bedacht, daß die Stimme im Grad erlaubter und unerlaubter Berührungen weiter gehen kann, als es alle Hände und Augen jemals getan haben.

Überdies weiß ein Mensch nicht, daß er sich beim Sprechen verrät. Wenn sich die Leute an mich, den kleinen Blinden, wandten, waren sie nicht auf der Hut. Sie waren überzeugt, daß ich die Worte vernähme, die sie sagten, daß ich ihren Sinn verstehe. Sie ahnten nie, daß ich in ihrer Stimme wie in einem Buch lesen konnte.

Der Mathematiklehrer betrat das Klassenzimmer, klatschte in die Hände und begann entschlossen mit dem Unterricht. Er sprach an diesem Tag klar wie gewöhnlich, vielleicht etwas fesselnder als sonst, etwas zu fesselnd. Anstatt gegen Ende der Sätze in die Ausgangslage zurückzufallen, wie sie es hätte tun müssen, das heißt, sich um zwei oder drei Töne zu senken, blieb seine Stimme, nach oben gewendet, in der Luft hängen. Es war, als wolle unser Lehrer an diesem Tag etwas verbergen, eine gute Figur machen vor wer weiß was für einem Auditorium, beweisen, daß er sich nicht gehen lasse, daß er durchhalten werde, durchhalten müsse! Und ich, der ich an die Kadenz seiner Stimme gewöhnt war, die so regelmäßig war wie das Schlagen eines Metronoms, spitzte die Ohren, und der Lehrer tat mir leid. Ich hätte ihm gern geholfen, doch das schien mir albern, hatte ich doch keinerlei Grund anzunehmen, er sei unglücklich. Aber er war allen Ernstes unglücklich. Die schreckliche »Kenntnis« böser Zungen überbrachte uns acht Tage später, daß seine Frau ihn gerade verlassen hatte.
(...)
Was die Stimmen mich lehrten, lehrten sie mich fast immer sofort. Zwar wirkten gewisse physische Faktoren störend. Es gab da Jungen, die schlecht atmeten - man hätte ihnen Wucherungen oder die Mandeln entfernen müssen - und deren Stimme wie von einer Wolke bedeckt blieb. Andere konnten nur ein lächerliches Falsett herausbringen, so daß man zunächst dachte, man habe Hasenfüße vor sich. Die Nervösen, Schüchternen gebrauchten ihre Stimme immer im falschen Moment und machten sich hinter ihrem Gestammel so klein wie möglich. Doch wenn ich mich täuschte, dann immer nur für kurze Zeit. Eine schöne Stimme (und schön bedeutet viel in diesem Zusammenhang, bedeutet, daß der Mensch, dem diese Stimme gehört, schön ist) blieb auch bei Husten und Stottern schön. Eine häßliche Stimme dagegen konnte sich süß stellen, sich parfümieren, behaglich schnurren oder flöten, sie blieb stets häßlich.
(...)
Wie sollte ich anderen Menschen erklären, daß alle meine Gefühle ihnen gegenüber - Sympathie oder Antipathie - von ihrer Stimme ausgingen? Ich versuchte es wohl einigen zu sagen, ihnen darzulegen, daß weder sie noch ich etwas dafür könnten. Doch bald mußte ich schweigen, da ihnen diese Vorstellung sichtlich Angst machte.

Es gab also eine moralische Musik. Unsere Gelüste, unsere Launen, unsere heimlichen Laster und selbst unsere sorgsamst gehüteten Gedanken übertrugen sich auf den Klang unserer Stimme, wurden offenbar in ihrer Modulation, in ihrem Rhythmus. Lagen drei oder vier Töne zu nah beisammen, dann hieß das Zorn, selbst wenn man dem Sprechenden nichts davon ansah. Auch die Heuchler konnte man auf der Stelle ertappen. Ihre Stimme war gedehnt und wies leichte, aber abrupte Abstände zwischen den Tönen auf, als ob sie beschlossen hätten, ihrer Stimme niemals freie Bahn zu lassen. 

(...)

Ich glaube, Jacques Lusseyran wäre gewiss nicht auf die Sirenen oder die Loreley hereingefallen; er hätte ihre Hässlichkeit durchschaut. Vielleicht auch die Sarumans aus dem Herrn der Ringe, dem Blender, um dessen Stimme es mir im kommenden Post gehen soll, denn mit dieser legt er Menschen herein – und sicherlich ist er auch heute nicht der Einzige, dem das gelingt. Übrgens wird die Leistung Tolkins ganz besonders deutlich, wenn man sie auf dem Hintergrund der Lusseyranschen Informationen sieht. – In den nächsten Tagen mehr.

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