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Sonntag, 20. April 2014

Keine Hierarchie von Heiligen auf goldenen Stühlen, kein Niedersturz verdammter Seelen ...

Auf dem Franziskusweg, einem Besinnungsweg zum Sonnengesang des Heiligen Franziskus unweit der Thüringer Hütte in der Hohen Rhön findet sich eine beeindruckende Skulptur der Künstlerin Christiane Weiel zum Thema Tod. Kaum jemand wird sich dem Eindruck dieser Gruppe von Wesen entziehen können:
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ROLLEI

Diese Gruppe von Wesen: das ist Karfreitag.
Unglaublich, wie hier der Tod ins Leben hineinragt. Kaum ein Wanderer wird achtlos vorüberlaufen können.
Hintergrund bilden die Worte des Heiligen Franziskus im Rahmen seines Sonnengesanges:
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Gelobt seist Du, mein Herr,
für unseren Bruder, den leiblichen Tod;
kein lebender Mensch kann ihm entrinnen.
Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben.
Selig, die er finden wird in Deinem heiligsten Willen,
denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.
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Doch mit Gedanken an den Tod endet der Sonnengesang nicht; er endet mit unendlicher Freude, die wie Vögel aus uns heraus zum Himmel fliegen - in der Bild-Sprache des Franziskusweges gestaltet von der Schweizer Künstlerin Anna Kuhn:
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 „Alles, was atmet, lobe den Herrn!“
„Alles, was atmet, lobe den Herrn!“
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Einen ähnlichen Weg von Karfreitag nach Ostern ist die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) gegangen, in deren gesamtem Werk es um die Trauerarbeit des Ich und dem Eingedenken des Faschismus geht hin zu einer "entsühnten Geschichte als Chiffre einer insgeheim wieder versöhnten Natur (...) Die Kindheit und der Tod, so wie sie sie persönlich und geschichtlich erfahren mußte, sind Embleme einer Erinnerung, der schließlich ihr ganzes Schreiben zugewandt war." (Uwe Schweikert in Deutsche Dichter, Reclam 1993)
Sie stirbt in Rom, wo sie vor ihrer Heirat in den frühen zwanziger Jahren schon in einem Antiquariat gearbeitet hatte, und kommt so nicht mehr dazu, einen für die Frankfurter Buchmesse geplanten Vortrag zu halten mit dem Titel Rettung durch die Phantasie.
Ihre Auseinandersetzung mit dem Tod geschieht vor allem, als ihr Mann, den sie 1925 geheiratet und der einen Lehrstuhl für Archäologie in Frankfurt innegehabt hatte, 1958 stirbt. Sein Tod stürzt sie in eine tiefe Lebenskrise, infolge deren sie viele Jahre nichts mehr veröffentlicht. Als sie auf die Bühne der Worte zurückkehrt, ist sie sich dessen bewusst:
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Eines Tages bin ich zurückgekommen, zurück woher, davon werde ich später sprechen, jetzt nur so viel sagen, daß ich fort war, lange und weit fort. Wenn Sie wissen wollen, wer hier spricht, welches Ich, so ist es das meine und auch wieder nicht, aus wem spräche immer nur das eigene Ich.
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Doch will sie sich nicht länger in Erinnerungen und Traumvorstellungen verlieren, ihren Mann zwar nicht vergessen, aber doch wieder am Leben teilnehmen.
In einem für mich so beeindruckenden Gedicht setzt sie dies in die Tat um.
Es ist dies ein Gedicht, in dem der Tod durch den Tod ihres Mannes in das Leben hineinragt, aber - und das ist so wichtig - das Leben auch in den Tod.
Damit wird diesem sein Stachel genommen, das Bewusstsein ist nicht bei Karfreitag stehen geblieben, sondern hat sich Ostern zugewandt.
Damit kann der Tod zu einem Leben nach dem Leben werden, einer Existenz des Seins, die uns bereichern kann, wenn wir uns die Hand reichen lassen aus jener anderen Welt.
Mit den Worten von Marie Luise Kaschnitz in jenem Gedicht , das überschrieben ist Ein Leben nach dem Tod:

Glauben Sie fragte man mich
An ein Leben nach dem Tode
Und ich antwortete: ja
Aber dann wußte ich
Keine Antwort zu geben
Wie das aussehen sollte
Wie ich selber
Aussehen sollte
Dort

Ich wußte nur eines
Keine Hierarchie
Von Heiligen auf goldenen Stühlen
Sitzend
Kein Niedersturz
Verdammter Seelen
Nur
Nur Liebe frei gewordene
Niemals aufgezehrte
Mich überflutend

Kein Schutzmantel starr aus Gold
Mit Edelsteinen besetzt
Ein spinnenwebenleichtes Gewand
Ein Hauch
Mir um die Schultern
Liebkosung schöne Bewegung
Wie einst von thyrrhenischen Wellen ...
Wortfetzen
Komm du komm

Schmerzweh mit Tränen besetzt
Berg- und Talfahrt
Und deine Hand
Wieder in meiner
So lagen wir lasest du vor
Schlief ich ein
Wachte auf
Schlief ein
Wache auf
Deine Stimme empfängt mich
Entläßt mich und immer
So fort

Mehr also, fragen die Frager
Erwarten Sie nicht nach dem Tode?
Und ich antwortete
Weniger nicht.

(Aus: Marie Luise Kaschnitz, Gesammelte Werke in 7 Bänden; Frankfurt am Main, Insel 1981, Band V.)

veröffentlicht auch auf Methusalem

Donnerstag, 17. April 2014

Eine Ohrfeige hat noch niemandem geschadet!

Das war eines der Themen, die im Rahmen einer Erörterung zur Auswahl standen, die meine Siebtklässler vor den Ferien schreiben mussten. Gerade bin ich am Korrigieren und bin ganz berührt von einer Arbeit und dem Bewusstsein, das hier zum Ausdruck kommt.
Da schreibt ein Mädchen: Man sollte als Elternteil immer aufzeigen, wie es besser wäre, wie es also anders geht.

Ich finde diesen Gedanken umwerfend, auch umwerfend wichtig. Auch das Bewusstsein, das dahinter steckt.
Eltern haben die Aufgabe, Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Und indem sie das tun, lehren sie ihr Kind, dass es darum geht, Lösungsmöglichkeiten zu finden.

Wie wertvoll !!

Sie fällen nicht Urteile oder nehmen Exekutionen vor, wie sie manchmal mein Vater an mir vollzog, wenn meine Mutter mit ihren Ohrfeigen bei mir nicht mehr genug Resonanz fand.

Heute haben sich die Schläge von Eltern mehr nach innen verlagert. Kinder zu schlagen, ist heute öffentlich verpönt, ja, in Deutschland - mittlerweile sogar auch in Bayern, wo sich Körperstrafen, auch in der Schule, am längsten gehalten haben - verboten.
Deshalb hat wohl die Fähigkeit, innerlich zu schlagen, innerlich jemand in die Ecke zu stellen, zugenommen.
Auch sie gilt es zunehmend zu enttarnen.
Verboten ist sie nicht. Vielleicht, weil man sie nicht beweisen kann.
Eine Ausrede.
Die Schwarze Pädagogik hat sich nach innen verlagert.
Unsere Aufgabe: sie zu enttarnen.

Was Sie lesen sollten: den Abschnitt "Situation heute" bei Wikipedia "Körperstrafen".
Unter anderem heißt es da:

"Eine 2004 von der Universität Freiburg durchgeführte Studie ergab, dass 43,9 % der befragten Eltern in der Deutsch- und Westschweiz innerhalb des letzten Jahres eine Körperstrafe erteilt hatten. Gleichzeitig stieg der Anteil der Eltern, die angaben, ihre Kinder nie körperlich bestraft zu haben, von 13,2 % im Jahr 1990 auf 26,4 %."

Geschlagen wird noch öfter, als wir denken.

"Entgegen den gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland wird in offiziellen religiösen Unterweisungen für deutsche Moslems die Prügelstrafe gegen Kinder und Jugendliche teilweise ausdrücklich gefordert."
Und Gleiches gilt, wenn auch nicht so offiziell, für einige christlich-fundamentalistische Kreise.

Übrigens hat sich schon Platon für gewaltfreie Erziehung ausgesprochen.
Und nach wie vor berührend ist jene Episode über eine Mutter, die ihr Kind "erzieht", erzählt von Astrid Lindgren in ihrer 1978 gehaltenen Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.
Veröffentlicht auch in Die Welten meiner und unserer inneren Kinder

Montag, 14. April 2014

Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern ...



… das habt ihr mir getan. – An Henri scheiden sich die Geister.

Der Fall erregt die Republik:
Die Süddeutsche, der Sterndie Stuttgarter Nachrichten, die FAZ, die SWR-Landesschau, der Deutschlandfunk – das ist nur eine kleine Auswahl der Medien, die über Henri berichten.

Mittlerweile – Stand Montag, 15 Uhr – steuert die Online-Petition auf change.Org 13-tausend Unterschriften zu.

Es geht um das Thema Inklusion. Henri hat ein Down-Syndrom. Seine Mutter möchte – von Henri selbst und seinen ehemaligen Klassenkameraden ist in fast allen Medien leider und seltsamerweise kaum, wenn nicht sogar nie die Rede -, dass ihr Kind mit seinen Klassenkameraden auf das Gymnasium Walldorf wechselt. Die dortige Schulkonferenz – ein Gremium, in dem Vertreter von Lehrern, Eltern, Schülern und der Schulleitung sitzen – hat sich gegen Henris Aufnahme ausgesprochen.

hier weiterlesen
Bildquelle: change.org

Samstag, 12. April 2014

Vom Glück, das es gibt, wenn man sicher sein kann, nicht verletzt zu werden.


Trotz Ferien war ich heute nochmal in der Schule, um die Aufschriebe aus den Gruppenarbeiten meiner Kollegen im Rahmen unseres pädagogischen Wochenendes in Bad Wildbad für eine Personalversammlung zu sichten.

Dabei fiel mir das Plakat auf, auf dem wir die Un- bzw. Zufriedenheit mit den pädagogischen Tagen zum Ausdruck gebracht hatten. Obwohl alle auch einen Teil des Wochenendes geopfert hatten, der normalerweise für die Familie oder Korrekturen gebucht ist, war die Reaktion sehr positiv und ich musste an jene Übung denken, die wir zum Abschluss auf Vorschlag von Sigrid Tomberg, die uns zusammen mit ihrem Mann Günter Tomberg durch die zwei Tage geleitet hatte, machten:

Wir saßen in Gruppen zusammen und jedem wurde aus der Gruppe ein Anderer zugeteilt, dem er drei positive Eigenschaften zuschreiben sollte. Das war wirklich spannend und ich wusste, dass ich nicht das Allerweltsübliche schreiben wollte.

Um genau diese Aufgabe hatte ich nämlich meine letzte Klasse, in der ich Klassenlehrer war, gebeten: Jeder sollte jedem aus der Klasse einen positiven Satz zu- und aufschreiben. Ich machte mir dann die Mühe, für jeden die 25 positiven Sätze der anderen auf ein Blatt zusammenzuschreiben. Puh, viel Arbeit, aber dennoch, wie ich noch heute finde, lohnenswert.

Was mir nur aufgefallen war: Wie oft stand da: Peter ist nett / Sandra ist freundlich und nett / Jan ist nett ...

Es blieb mir gar nichts übrig, als die Bitte zu äußern, das Wort nett zu vermeiden und auch gut gelaunt und ähnliche stereotype Wendungen.

Am Schluss hatten jedenfalls alle ein schön gestaltetes Blatt mit Sätzen der KlassenkameradInnen und ich bin sicher, einige heben sich das ihre gut auf. Von manchen Aussagen, die sich die Kinder zuschrieben, war ich echt berührt, und ich kann mir vorstellen, mancher hat das ein oder andere, was er da über sich las, so noch nicht vernommen.

Ich erinnere mich, dass es mir nicht so leicht fiel, dem Kollegen, der mir zugeteilt war, etwas ganz Spezifisches mitzugeben; es gelang jedoch; und zuallermeist gelang es auch den Kollegen aus meiner Gruppe für den ihm bzw. ihr Zugeteilten.

Weshalb ich davon schreibe: Während ich mit der Sichtung in der Schule beschäftigt war, kam mir in den Sinn, wie schön die Atmosphäre in der Gruppe bei dieser Aufgabe war. Ja, im Nachhinein finde ich:

Es herrschte eine Form von Glück.

Und mir kam auch, als ich darüber sann, der Grund, weshalb das so sein konnte:

Jeder von uns konnte sicher sein, nicht verletzt zu werden.

Nun mag mancher denken: Was werden erwachsene Menschen - zumal unter KollegInnen - Angst haben, verletzt zu werden?!

Ich glaube, dass wir unbewusst viel mehr Ängste, als wir ahnen, haben, auch Ängste, wir könnten verletzt werden.

Vor allem dann, wenn es ins Persönliche geht. Da liegt die Seele blank.

Ich bin mir sicher, als Kind habe ich diese Angst zu Hause oft gehabt.

Und in der Schule auch, weil ich ein sehr mittelmäßiger Schüler war, dem Lehrer nicht übermäßig wohl gesonnen waren; da bekam man schnell mal eine Verletzung durch einen lapidar dahingesagten Satz des Lehrers ab.

Jedenfalls, wenn ich an die vielleicht 40 Minuten zurückdenke, in der wir diese Übung machten, dann kommt es mir vor, als wären wir unter einer goldenen Glocke vereint gewesen. Alle Gesichter haben ein Strahlen im Gesicht gehabt, vor allem in der Phase, als alle gespannt darauf waren, was nun der Andere Erfreuliches über sich hören würde.


Übrgens: Eines der Themen dieses Pädagogischen Wochenendes war Lehrergesundheit.

In diesem Moment, wo wir strahlten, waren wir wirklich gesund!

Es war so schön, weil keiner Angst haben musste, es könnte jetzt etwas Schräges oder Verletzendes kommen.

Wie schön ist es, wenn Menschen sehr persönlich miteinander umgehen und trotzdem vor Glück strahlen dürfen!

Vielleicht überhöhe ich das Geschehen von damals im Nachhinein ein wenig - aber ich glaube, das ist nicht einmal der Fall.

Über was mich das alles auch nachdenken lässt: 


Wie es Schülern in der Schule geht und wie sehr Schule auch solcher Zeiten und Räume bedarf, wo gerade Kinder - gerade auch im ganz normalen Unterricht - sicher sein und vor Glück strahlen können, weil es diese Sicherheit gibt, die zu den schönsten Gewissheiten des Lebens gehört: 

geschützt zu sein vor Verletzungen.

Und Lehrer sollten eines wissen: 
Nur, wenn ihre Schüler wirklich gesund sind, sind auch sie selbst gesund!

Montag, 7. April 2014

Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen . . .


Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.
Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds -
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.

Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal in mir das Licht entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen.

Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt.


Rainer Maria Rilke, 22.9.1899, Berlin-Schmargendorf