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Sonntag, 7. September 2014

Warum die Großmutter Groß-Mutter heißt und was man von Rotkäppchen lernen kann!

Man kann als Lehrer nicht umhin zu erkennen, dass Großeltern für Kinder eine bedeutende Rolle spielen. Bisweilen überwinden sie den Tod von Großvater oder Großmutter nur schwer. Jedenfalls habe ich das wiederholt festgestellt, wenn ich Klassenlehrer einer 5. und 6. Klasse war.
Immer wieder, wenn Kinder von ihrer Familie erzählt haben, dann taten sie das besonders liebevoll von der Großmutter, übrigens mehr noch als von dem Großvater.
Bei C.G. Jung habe ich gelesen, dass, wenn das kindliche Ich sich entwickelt und einen mehr und mehr differenzierenden Blick auf die eigene Mutter erlaubt, die Großmutter als Große Mutter in den Vordergrund rückt.
Die Große Mutter ist ja nach Ansicht des bedeutenden Schweizer Psychologen ein Archetypus in der menschlichen Seele, also ein Grundmuster, was jeder Mensch in sich trägt. Jeder hat in seiner Seele einen Platz für etwas, was Jung als etwas bezeichnet, das einer Idee im Sinne des griechischen Philosophen Platon gleichkommt, eine ursprüngliche Wesenheit.
Was da vorhanden ist - gleichsam ein Platzhalter, der gefüllt sein will - wird in jedes Menschen Leben in der Regel ausgefüllt durch die reale Mutter. Und wenn auf diese nicht mit der Zeit eine differenzierende, distanzierte Sicht eintritt, dann wirkt diese Mutter - gleichsam als Große Mutter - aus dem Urgrund der Seele ein Leben lang. Gerade bei einem Mann ist das wichtig, denn seine weibliche Seite, seine Anima, ist ja maßgeblich durch sie geprägt. Sie kann in seinem Leben als depressive Laune, Reizbarkeit und ewige Unzufriedenheit auftreten, sie kann es sein, die dem Mann immer einflüstert, dass doch alles keinen Sinn habe, sie kann eine heimlich-unheimliche Angst vor dem Tod in ihm installieren. Letztendlich kann sie auch verantwortlich sein für eine gelebte Homosexualität.
Wenn das Ich eine differenzierende Sicht auf die eigene Mutter erlaubt, übernimmt die Großmutter die bisherige Rolle der Mutter.
Sie wird zur Groß-Mutter.
Sie ist dann die Gestalt, in die alles Gute und weniger Gute hineinprojiziert wird; sie ist Pool für die Wärmespenderin und die Höhle, in die man sich kuschelt genauso wie das Hexenhafte, das man in ihrem Wesen vielleicht zu erspüren vermag, für alles Numinose, Vergangene.
Die eigentliche Große Mutter kennt keine Differenzierung in Gut und Böse.
Unglaublich, was dieser Archetypus für Ausprägungen erfahren kann - Jung hat sie einmal in Die Archetypen und das kollektive Unbewußte aufgelistet:


die persönliche Mutter und Großmutter; die Stief- und Schwiegermutter, irgendeine Frau, zu der man in Beziehung steht, auch die Amme oder Kinderfrau, die Ahnfrau und die Weiße Frau, in höherem, übertragenem Sinne die Göttin, speziell die Mutter Gottes, die Jungfrau (als verjüngte Mutter, zum Beispiel Demeter und Kore), Sophia (...); die Materie, die Unterwelt und der Mond, in engerem Sinne als Geburts- oder Zeugungsstätte der Acker, der Garten, der Fels, die Höhle, der Baum, die Quelle, der tiefe Brunnen, das Taufbecken (...); im engsten Sinne die Gebärmutter, jede Hohlform (...); die Yoni; der Backofen, der Kochtopf; als Tier die Kuh, der Hase und das hilfreiche Tier überhaupt.

Im Wesen des Menschen ist all dies als Bewusstsein enthalten und wirkt über Märchen und Volkslieder.
Das ein oder andere findet sich auch als Inhalt in meinem nächsten Webinar Die Weisheit der Volkslieder (II): Gefährliche Wasser für Liebe und Leben.

Die reale Großmutter ist also wirklich oft eine Große Mutter - und es ist gut, dass sie es sein kann.
Wir brauchen dieses heimelige Gefühl, dieses Gefühl, daheim zu sein, ein Gefühl, dass uns die Große Mutter gibt - oder sagen wir: geben möchte, wenn uns der Zugang zu ihr nicht verstellt ist. Siegfrieds Kampf gegen den Drachen war auch ein Kampf gegen den negativen, zerstörerischen Aspekt der Großen Mutter. 

Gut, wenn man, wie Rotkäppchen, so einen wachen Animus, eine wache männliche Seite hat wie es in seinem Falle der Jäger ist; denn manchmal ist man nicht einmal in der Lage, den Wolf von der Großmutter zu unterscheiden.
Gut im Übrigen auch, wenn man aus Fehlern lernt; Rotkäppchen konnte das, es heißt nämiich bei den Gebrüdern Grimm,
daß einmal, als Rotkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf ihm zugesprochen und es vom Wege habe ableiten wollen. Rotkäppchen aber hütete sich und ging gerade fort seines Wegs und sagte der Großmutter, daß es dem Wolf begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: »Wenn's nicht auf offner Straße gewesen wäre, er hätte mich gefressen.« »Komm«, sagte die Großmutter, »wir wollen die Türe verschließen, daß er nicht herein kann.« Bald darnach klopfte der Wolf an und rief: »Mach auf, Großmutter, ich bin das Rotkäppchen, ich bring dir Gebackenes.« Sie schwiegen aber still und machten die Türe nicht auf: da schlich der Graukopf etlichemal um das Haus, sprang endlich aufs Dach und wollte warten, bis Rotkäppchen abends nach Haus ginge, dann wollte er ihm nachschleichen und wollt's in der Dunkelheit fressen. Aber die Großmutter merkte, was er im Sinn hatte. Nun stand vor dem Haus ein großer Steintrog, da sprach sie zu dem Kind: »Nimm den Eimer, Rotkäppchen, gestern hab ich Würste gekocht, da trag das Wasser, worin sie gekocht sind, in den Trog.« Rotkäppchen trug so lange, bis der große, große Trog ganz voll war. Da stieg der Geruch von den Würsten dem Wolf in die Nase, er schnupperte und guckte hinab, endlich machte er den Hals so lang, daß er sich nicht mehr halten konnte und anfing zu rutschen: so rutschte er vom Dach herab, gerade in den großen Trog hinein, und ertrank. Rotkäppchen aber ging fröhlich nach Haus, und tat ihm niemand etwas zuleid.

2 Kommentare:

lali hat gesagt…

Toll! ich werde das neue "Rotkppchen" meinen Enkelkindern lesen. Wirklich muss die Oma Hoffnung und Wärme ausgeben und auch Lustmit den Kindern zu spielen...:)11917

Johannes G. Klinkmüller hat gesagt…

Ja, genau :-)

Liebe Grüße!