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Dienstag, 20. Januar 2015

Ich sehne mich nach deines Herzens großen Händen . . .

Nach meinem Umzug nach Bad Kissingen finde ich viel von mir in den Worten Rainer Marias Rilke aus seinem Stundenbuch, das zwischen 1899 und 1903 auf eine so bemerkenswerte Weise, von der ich berichtet habe, entstand. 
Bemerkenswert einfach auch, wie er sich im folgenden Gedicht an Gott wendet:

Ich bete wieder, du Erlauchter,
du hörst mich wieder durch den Wind,
weil meine Tiefen nie gebrauchter
rauschender Worte mächtig sind.
Ich war zerstreut; an Widersacher
in Stücken war verteilt mein Ich.
O Gott, mich lachten alle Lacher,
und alle Trinker tranken mich.
In Höfen hab ich mich gesammelt
aus Abfall und aus altem Glas,
mit halbem Mund dich angestammelt,
dich, ewiger aus Ebenmaß.
Wie hob ich meine halben Hände
zu dir in namenlosem Flehn,
daß ich die Augen wiederfände,
mit denen ich dich angesehn.
Ich war ein Haus nach einem Brand,
darin nur Mörder manchmal schlafen,
eh ihre hungerigen Strafen
sie weiterjagen in das Land;
ich war wie eine Stadt am Meer,
wenn eine Seuche sie bedrängte,
die sich wie eine Leiche schwer
den Kindern in die Hände hängte.
Ich war mir fremd wie irgendwer
und wußte nur von ihm, daß er
einst meine junge Mutter kränkte,
als sie mich trug,
und daß ihr Herz, das eingeengte,
sehr schmerzhaft an mein Keimen schlug.
Jetzt bin ich wieder aufgebaut
aus allen Stücken meiner Schande
und sehne mich nach einem Bande,
nach einem einigen Verstande,
der mich wie ein Ding überschaut, –
nach deines Herzens großen Händen –
(o kämen sie doch auf mich zu)
ich zähle mich, mein Gott, und du,
du hast das Recht, mich zu verschwenden.

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