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Mittwoch, 13. Mai 2015

Mignons Lied "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?"

Eine der tiefgründigsten Gestalten - und da macht es für mich keinen großen Unterschied, ob sie literarischen oder realen Ursprungs sind - ist Mignon, die Tochter des Harfenspielers aus Wilhelm Meisters Lehrjahren.

Und eines jener Gedichte, das mich schon immer sehr berührt hat, ist jenes, das das Mädchen zu Beginn des dritten Kapitels ganz ohne Vorankündigung singt:


Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
                                Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! 

Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
                                Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn! 


Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
                                Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!

Ein Lied voller Sehnsucht.
Einer Sehnsucht nach dem Geliebten, dem Beschützer, dem Vater.
Einer Sehnsucht nach Italien, das hier auch für Kanaan steht, dem Land, dem das Volk Israel nach der Flucht aus Ägypten zustrebte, 40 Jahre lang durch die Wüste, wobei die Zahl 40 hier für jene (Wochen-)Zeit steht, die wir als Menschen vor der Geburt benötigen, damit etwas Neues entsteht, so dass wir ins Land unserer Sehnsucht gelangen können.
Mörike nannte es Orplid, manche nennen es Atlantis, das tief in unsrer aller Seele ruht. Ein Name, der jenen erstrebten Sehnsuchtsort abbildet.

Umso berührender ist dieses Lied, wenn man die Geschichte dieses Mädchens, das sich erst kurz vor seinem Tod zu seiner Weiblichkeit bekannte - zuvor hatte sie immer Jungen-Kleider getragen - kennt; der Medicus erzählt Wilhelm:
Sie mag in der Gegend von Mailand zu Hause sein und ist in sehr früher Jugend durch eine Gesellschaft Seiltänzer ihren Eltern entführt worden. Näheres kann man von ihr nicht erfahren, teils weil sie zu jung war, um Ort und Namen genau angeben zu können, besonders aber weil sie einen Schwur getan hat, keinem lebendigen Menschen ihre Wohnung und Herkunft näher zu bezeichnen. Denn eben jene Leute, die sie in der Irre fanden und denen sie ihre Wohnung so genau beschrieb mit so dringenden Bitten, sie nach Hause zu führen, nahmen sie nur desto eiliger mit sich fort und scherzten nachts in der Herberge, da sie glaubten, das Kind schlafe schon, über den guten Fang und beteuerten, daß es den Weg zurück nicht wieder finden sollte. Da überfiel das arme Geschöpf eine gräßliche Verzweiflung, in der ihm zuletzt die Mutter Gottes erschien und es versicherte, daß sie sich seiner annehmen wolle. Es schwur darauf bei sich selbst einen heiligen Eid, daß sie künftig niemand mehr vertrauen, niemand ihre Geschichte erzählen und in der Hoffnung einer unmittelbaren göttlichen Hülfe leben und sterben wolle. Selbst dieses, was ich Ihnen hier erzähle, hat sie Natalien nicht ausdrücklich vertraut; unsere werte Freundin hat es aus einzelnen Äußerungen, aus Liedern und kindlichen Unbesonnenheiten, die gerade das verraten, was sie verschweigen wollen, zusammengereiht.

Wilhelm Meister kauft dieses Mädchen von dieser Seiltänzertruppe frei. Seitdem ist sie ihm in höchster Liebe zugetan. Ihr Schicksal, ihre Bedeutung gehört zu den größten Geheimnissen dieses Romans.
Wie alle seine Figuren steht Mignon für eine Wesenheit auch unserer Seele. Goethe hat - das möchte ich so zu behaupten wagen - nie etwas Belangloses in seine Werke hineingeschrieben.
Mignon stirbt, als sie Wilhelm in den Armen einer anderen Frau, in den Armen Theresens findet. Ihr schwaches Herz erträgt diesen Anblick nicht, warum auch immer.
Womöglich wäre sie - obwohl das an keiner Stelle thematisiert wird und sie es auch selbst nie anspricht - mit ihrem Geliebtem, ihrem Beschützer, ihrem Vater in jenes Land gezogen. Ihr seufzendes o, o Geliebter, o Beschützer, o Vater, bleibt wohl in jedes Lesers Ohr zurück.

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