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Freitag, 27. November 2015

Wo die Mutter der Dinge, die verschleierte Jungfrau wohnt: Novalis und sein Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen


Vor langen Zeiten lebte weit gegen Abend ein blutjunger Mensch. Er war sehr gut, aber auch über die Maßen wunderlich. Er grämte sich unaufhörlich um nichts und wieder nichts, ging immer still für sich hin, setzte sich einsam, wenn die andern spielten und fröhlich waren, und hing seltsamen Dingen nach. Höhlen und Wälder waren sein liebster Aufenthalt, und dann sprach er immerfort mit Tieren und Vögeln, mit Bäumen und Felsen, natürlich kein vernünftiges Wort, lauter närrisches Zeus zum Totlachen. Er blieb aber immer mürrisch und ernsthaft, ungeachtet sich das Eichhörnchen, die Meerkatze, der Papagei und der Gimpel alle Mühe gaben ihn zu zerstreuen, und ihn auf den richtigen Weg zu weisen. Die Gans erzählte Märchen, der Bach klimperte eine Ballade dazwischen, ein großer dicker Stein machte lächerliche Bockssprünge, die Rose schlich sich freundlich hinter ihm herum, kroch durch seine Locken, und der Efeu streichelte ihm die sorgenvolle Stirn. Allein der Missmut und Ernst waren hartnäckig.

Seine Eltern waren sehr betrübt, sie wußten nicht was sie anfangen sollten. Er war gesund und aß, nie hatten sie ihn beleidigt, er war auch bis vor wenig Jahren fröhlich und lustig gewesen, wie keiner; bei allen Spielen voran, von allen Mädchen gern gesehn. Er war recht bildschön, sah aus wie gemalt, tanzte wie ein Schatz.

Unter den Mädchen war eine, ein köstliches, bildschönes Kind, sah aus wie Wachs, Haare wie goldne Seide, kirschrote Lippen, wie ein Püppchen gewachsen, brandrabenschwarze Augen. Wer sie sah, hätte mögen vergehn, so lieblich war sie. Damals war Rosenblüte, so hieß sie, dem bildschönen Hyazinth, so hieß er, von Herzen gut, und er hatte sie lieb zum Sterben. Die andern Kinder wußten's nicht. Ein Veilchen hatte es ihnen zuerst gesagt, die Hauskätzchen hatten es wohl gemerkt, die Häuser ihrer Eltern lagen nahe beisammen.

Wenn nun Hyazinth die Nacht an seinem Fenster stand und Rosenblüte an ihrem, und die Kätzchen auf dem Mäusefang da vorbeiliefen, da sahen sie die beiden stehn und lachten und kicherten oft so laut, dass sie es hörten und böse wurden. Das Veilchen hatte es der Erdbeere im Vertrauen gesagt, die sagte es ihrer Freundin, der Stachelbeere, die ließ nun das Sticheln nicht, wenn Hyazinth gegangen kam; so erfuhr's denn bald der ganze Garten und der Wald, und wenn Hyazinth ausging, so rief's von allen Seiten: Rosenblütchen ist mein Schätzchen!

Nun ärgerte sich Hyazinth, und musste doch auch wieder aus Herzensgrunde lachen, wenn das Eidechschen geschlüpft kam, sich auf einen warmen Stein setzte, mit dem Schwänzchen wedelte und sang:

Rosenblütchen, das gute Kind,
Ist geworden auf einmal blind
Denkt, die Mutter sei Hyazinth,
Fällt ihm um den Hals geschwind;
Merkt sie aber das fremde Gesicht,
Denkt nur an, da erschrickt sie nicht,
Fährt, als merkte sie kein Wort,
Immer nur mit Küssen fort.


Ah! wie bald war die Herrlichkeit vorbei. Es kam ein Mann aus fremden Landen gegangen, der war erstaunlich weit gereist, hatte einen langen Bart, tiefe Augen, entsetzliche Augenbrauen, ein wunderliches Kleid mit vielen Falten und seltsame Figuren hineingewebt. Er setzte sich vor das Haus, das Hyazinths Eltern gehörte. Nun war Hyazinth sehr neugierig, und setzte sich zu ihm und holte ihm Brot und Wein. Da tat er seinen weißen Bart voneinander und erzählte bis tief in die Nacht, und Hyazinth wich und wankte nicht, und wurde auch nicht müde zuzuhören. Soviel man nachher vernahm, so hat er viel von fremden Ländern, unbekannten Gegenden, von erstaunlich wunderbaren Sachen erzählt und ist drei Tage dageblieben und mit Hyazinth in tiefe Schachten hinuntergekrochen.

Rosenblütchen hat genug den alten Hexenmeister verwünscht, denn Hyazinth ist ganz versessen auf seine Gespräche gewesen, und hat sich um nichts bekümmert; kaum dass er ein wenig Speise zu sich genommen. Endlich hat jener sich fortgemacht, doch dem Hyazinth ein Büchelchen dagelassen, das kein Mensch lesen konnte. Dieser hat ihm noch Früchte, Brot und Wein mitgegeben, und ihn weit weg begleitet. Und dann ist er tiefsinnig zurückgekommen, und hat einen ganz neuen Lebenswandel begonnen. Rosenblütchen hat recht zum Erbarmen um ihn getan, denn von der Zeit an hat er sich wenig aus ihr gemacht und ist immer für sich geblieben.

Nun begab sich's, dass er einmal nach Hause kam und war wie neugeboren. Er fiel seinen Eltern um den Hals und weinte. »Ich muß fort in fremde Lande«, sagte er; »die alte wunderliche Frau im Walde hat mir erzählt, wie ich gesund werden müsste, das Buch hat sie ins Feuer geworfen und hat mich getrieben, zu euch zu gehn und euch um euren Segen zu bitten. Vielleicht komme ich bald, vielleicht nie wieder. Grüßt Rosenblütchen. Ich hätte sie gern gesprochen, ich weiß nicht, wie mir ist, es drängt mich fort; wenn ich an die alten Zeiten zurückdenken will, so kommen gleich mächtigere Gedanken dazwischen, die Ruhe ist fort, Herz und Liebe mit, ich muss sie suchen gehn. Ich wollt' euch gern sagen, wohin, ich weiß selbst nicht, dahin wo die Mutter der Dinge wohnt, die verschleierte Jungfrau. Nach der ist mein Gemüt entzündet. Lebt wohl.«

Er riß sich los und ging fort. Seine Eltern wehklagten und vergossen Tränen, Rosenblütchen blieb in ihrer Kammer und weinte bitterlich. Hyazinth lief nun was er konnte, durch Täler und Wildnisse, über Berge und Ströme, dem geheimnisvollen Lande zu. Er fragte überall nach der heiligen Göttin (Isis) Menschen und Tiere, Felsen und Bäume. Manche lachten, manche schwiegen, nirgends erhielt er Bescheid. Im Anfange kam er durch rauhes, wildes Land, Nebel und Wolken warfen sich ihm in den Weg, es stürmte immerfort; dann fand er unansehnliche Sandwüsten, glühenden Staub, und wie er wandelte, so veränderte sich auch sein Gemüt, die Zeit wurde ihm lang und die innere Unruhe legte sich, er wurde sanfter und das gewaltige Treiben in ihm allgemach zu einem leisen, aber starken Zuge, in den sein ganzes Gemüt sich auflöste. Es lag wie viele Jahre hinter ihm.

Nun wurde die Gegend auch wieder reicher und mannigfaltiger, die Luft lau und blau, der Weg ebener, grüne Büsche lockten ihn mit anmutigen Schatten, aber er verstand ihre Sprache nicht, sie schienen auch nicht zu sprechen, und doch erfüllten sie sein Herz mit grünen Farben und kühlem, stillem Wesen. Immer höher wuchs jene süße Sehnsucht in ihm, und immer breiter und saftiger wurden die Blätter, immer lauter und lustiger die Vögel und Tiere, balsamischer die Früchte, dunkler der Himmel, wärmer die Luft, und heißer seine Liebe, die Zeit ging immer schneller, als sähe sie sich nahe am Ziele.

Eines Tages begegnete er einem kristallenen Quell und einer Menge Blumen, die kamen in ein Tal herunter zwischen schwarzen himmelhohen Säulen. Sie grüßten ihn freundlich mit bekannten Worten.

»Liebe Landsleute,« sagte er, »wo find' ich wohl den geheiligten Wohnsitz der Isis? Hier herum muss er sein, und ihr seid vielleicht hier bekannter als ich.«

»Wir gehn auch nur hier durch«, antworteten die Blumen; »eine Geisterfamilie ist auf der Reise und wir bereiten ihr Weg und Quartier. Indes sind wir vor kurzem durch eine Gegend gekommen, da hörten wir ihren Namen nennen. Gehe nur aufwärts, wo wir herkommen, so wirst du schon mehr erfahren.«

Die Blumen und die Quelle lächelten, wie sie das sagten, boten ihm einen frischen Trunk und gingen weiter.

Hyazinth folgte ihrem Rat, frug und frug und kam endlich zu jener längst gesuchten Wohnung, die unter Palmen und andern köstlichen Gewächsen versteckt lag. Sein Herz klopfte in unendlicher Sehnsucht, und die süßeste Bangigkeit durchdrang ihn in dieser Behausung der ewigen Jahreszeiten. Unter himmlischen Wohlgedüften entschlummerte er, weil ihn nur der Traum in das Allerheiligste führen durfte. Wunderlich führte ihn der Traum durch unendliche Gemächer voll seltsamer Sachen auf lauter reizenden Klängen und in abwechselnden Akkorden. Es dünkte ihm alles so bekannt und doch in nie gesehener Herrlichkeit, da schwand auch der letzte irdische Anflug, wie in Luft verzehrt, und er stand vor der himmlischen Jungfrau. Da hob er den leichten, glänzenden Schleier, und Rosenblütchen sank in seine Arme.

Eine ferne Musik umgab die Geschehnisse des liebenden Wiedersehns, die Ergießungen der Sehnsucht, und schloss alles Fremde von diesem entzückenden Orte aus. Hyazinth lebte nachher noch lange mit Rosenblütchen unter seinen frohen Eltern und Gespielen, und unzählige Enkel dankten der alten wunderlichen Frau für ihren Rat und ihr Feuer; denn damals bekamen die Menschen soviel Kinder, als sie wollten.
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Eine Frage bleibt auf jeden Fall zu klären:

Wie kann es  sein, dass der Jüngling den Schleier hebt und nicht Isis, sondern Rosenblütchen findet?

Verständlich wird das, wenn wir bedenken, dass, wenn der Mensch jenen Teil seiner Seele findet, der ursprünglich zu ihm gehört und auf den sich mehrere Posts  auf meinem Methusalem-Blog beziehen (unter anderem dieser hier und des Weiteren zu finden unter dem Schlagwort/Tag Dualseele), er eine Ganzheit erreicht, die seinem vollkommenen Wesen entspricht. Nichts anderes aber ist das Ewig-Weibliche, sprich Isis, sprich Maria.
Insofern ist es umso erfreulicher, wenn Hyazinth Rosenblütchen wieder begegnet als Möglichkeit, diese Seinsweise hier auf Erden zu leben.

Das auch mag erklären, warum die Lehre von der Dreifaltigkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes die Mutter vermissen lässt, ein Umstand, den ich nie recht nachvollziehen konnte.
Mittlerweile denke ich, dass die weibliche Seite Gottes, das Ewig-Mütterlich-Weibliche sich in der menschlichen Seele, einer Seele, die weit mehr ist als das, was wir oder die Psychologie darunter verstehen, manifestiert. Begriffe wie Selbst, Ganzheit oder vergleichbare können deren Realität nicht erfassen.

Wer diese ungenügend vorbereitet zu erschauen sucht, dem geht es wie Schillers Jüngling in der Ballade Das Bildnis zu Sais. Es hat seine Gründe, warum die Isis Schillers einen Schleier trägt.

Donnerstag, 26. November 2015

Ein bisschen Einstein darf sein!

Am Ende eines Spektrum-Artikels zu Einstein las ich folgende Zeilen:

Jahre später fragte sein jüngerer Sohn Eduard, warum er so berühmt sei.
Um seine fundamentale Erkenntnis, dass sich die Schwerkraft als Krümmung der Raumzeit deuten ließ, zu erklären, nutzte Einstein ein einfaches Bild:

"Wenn ein blinder Käfer über die Oberfläche einer Kugel krabbelt, merkt er nicht, dass der zurückgelegte Weg gekrümmt ist. Ich hingegen hatte das Glück, es zu merken."

Wenn wir nachts in den Himmel schauen, glauben wir auch, dass die Lichtquelle, die wir sehen, an genau dem Fleck sei, wo wir sie sehen.
Welch ein Irrtum. Auch das Licht verläuft ja entlang der Krümmung der Raum-Zeit.

Vielleicht sollten manche Theologen und all die in Glaubensdingen so Allwissenden berücksichtigen, dass das Göttliche Licht, von dem sie sprechen, von ihrer Raum-Zeit gekrümmt wird. Bei manchen gar sehr.

Selten also ist das göttliche Licht da, wo sie es vermuten. Es wäre gut, wenn sie in ihren Botschaften und Predigten das berücksichtigten!

Sonntag, 22. November 2015

Zum Totensonntag: O du verlorener Gott Du unendliche Spur . . .

Im Gedächtnis Rainer Maria Rilkes lebt Orpheus weiter, der dem Treiben der Mänaden, jener Kräfte, die ein ungezügeltes Treiben, bar allen inneren Haltes, verkörpern, zum Opfer fiel. Seinen letzten Augenblicken setzt Rilke ein Denkmal, indem er darauf verweist, dass Ordnung wahrhaft erbauendes Spiel überleben lässt. Und er verweist uns darauf, dass der Tod all derer, die sterben, solchen Kräften zum Opfer fallend, nicht sinnlos ist. Mit Orpheus lassen sie uns zu Hörenden werden.


Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner,
da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel,
hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner,
aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel.

Keine war da, dass sie Haupt dir und Leier zerstör.
Wie sie auch rangen und rasten, und alle die scharfen
Steine, die sie nach deinem Herzen warfen,
wurden zu Sanftem an dir und begabt mit Gehör.

Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt,
während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte
und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt.

O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!
Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft
verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.




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Buchveröffentlichung Gedichtinterpretationen gestalten lernen
Für Oberstufenschüler und alle, die verstehen möchten, auf 
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Freitag, 20. November 2015

Eagles of death: Manches Mal fliegen Symbole mitten ins Leben!

Wir sprechen von einer pluralistischen Gesellschaft, aber diese Gesellschaft ist dabei, sich zu Tode zu pluralisieren. Über uns und in uns kreisen die Adler des Todes.

Es wäre unsere Aufgabe, die Aufgabe unserer Kultur gewesen, einen Glauben zu leben, der mit Liebe verbunden ist.

Nun wird uns präsentiert, was Glaube, verbunden mit Hass, für eine Macht ist.

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Mittwoch, 18. November 2015

So viel Liebe: Ein Hund gedenkt jeden Tag in der Kirche seines verstorbenen Frauchens


















Der Südwest-Presse habe ich das Folgende entnommen; und auch, wenn das Geschehen vor zwei Jahren veröffentlicht wurde, es berührt noch heute:

Das Frauchen des 12 Jahre alten Schäferhundes ist bereits vor zwei Monaten gestorben, aber Ciccio trauert noch immer jeden Tag in der Kirche um Elisabetta Lochi.
Wenn die Glocken läuten, trottet der treue Vierbeiner zur Kirche, um der Messe am Altar beizuwohnen.
Sein Frauchen, das nie im dem Dorf, in das sie gezogen war, Anschluss gefunden hatte, kümmerte sich liebevoll um herrenlose Hunde. Ciccio hatte gelernt, vor Läden und vor der Kirche zu warten, wenn sein Frauchen dort war.
Täglich nun ist Ciccio in der Kirche, wo auch seinem Frauchen die letzte Ehre erwiesen worden war.
Auch bei der Kommunionsausteilung ist er vor dem Altar zugegen.
Der Pfarrer und die ganze Dorfgemeinschaft haben ihn ins Herz geschlossen.

Samstag, 14. November 2015

Guido ist wesentlich!

"Mensch, werde wesentlich!", hat vor wohl 350 Jahren Angelus Silesius seinen Zeitgenossen ins Stammbuch geschrieben. Und es gilt noch heute. Die Frage ist: Geht es nur über Leid, wesentlich zu sein?

Zunächst möchte ich dieses Epigramm des Angelus Silesius wiedergeben, es lautet in seiner unnachahmlichen Form als zweizeiliger Alexandriner:

Mensch, werde wesentlich! / Denn wenn die Welt vergeht,
So fällt der Zufall weg, / das Wesen, das besteht.

Das ist es, was dieser Johannes Scheffler sagen wollte:

Dein Wesen besteht ewig, Mensch. So werde doch -wesen-tlich, wenn möglich, solange die Welt noch besteht!

Am vergangenen Donnerstag habe ich bei Markus Lanz Guido Westerwelle erlebt, den ich ehrlich nie leiden konnte. Ich erinnere mich an den Abend, als die FDP so gut bei der Bundestagswahl abgeschnitten hatte. Da ging er durch die Gegend, als ob ihm ein Stock in den Rücken eingezogen sei, bis zum Anschlag gravitätisch gespreizt, und seine Aussagen waren dermaßen egogeplustert, dass es fast unerträglich war, und ich meine, Angela Merkel angesichts seiner Worte und seines Gehabes anzusehen geglaubt haben zu können, wie sie dachte: Irgendwann kommst auch Du wieder auf den Boden.

Das alles ist Schnee von gestern und Guido Westerwelle hat eine schreckliche Zeit hinter sich. Das wenige, was er in der Sendung berichten konnte, reichte, um zu merken: Dieser Mann war ganz tief unten.

Das wurde deutlich, wenn er erzählte, dass die Krankenschwester ihm vorschlug angesichts der Büschel von Haaren, die im Rahmen der Chemo jeden Morgen auf dem Kissen lagen, doch alles radikal wegzumachen. Oder wenn er erzählte, wie es ist, wenn alle Körperfunktionen versagen und man angewiesen ist auf Pflegende, die einen erträglich halten.

Noch in der Sendung konnte er ja kaum lachen, weil seine Mundschleimhäute noch so angegriffen sind.
Man sah ihm die Spuren seines Kampfes mit dieser aggressiven Form einer Leukämie überdeutlich an.
Aber da sprach ein Mann, der war wesentlich.
Sein ganzes Leid, jener allergische Anfall, als er dachte: So ist es also, wenn man stirbt, die haben diesen Mann so demütig, so aufrichtig, so authentisch, so ehrlich gemacht, dass es für mich unvergesslich ist, diesen Mann erlebt zu haben.
Wenn man ein Beispiel sucht für einen Menschen, der wesentlich geworden ist, dann ist es dieser Mann.
Seitdem quält mich die Frage, ob es tatsächlich so ist, dass man im Grunde gestorben sein muss, um wesentlich zu sein.
Keine Frage, die Bibel sieht das meines Erachtens so: Der Weg führt über Gethsemane und Golgatha, damit das wahre Wesen auferstehen kann.
Bei Guido Westerwelle ist es so.
Mich hat dieser Mann, den ich einstmals nicht abkonnte, so bewegt.
Bewegt hat mich, mit wie viel Liebe er seinen Ehemann angeschaut hat, ohne den er, wie er selbst sagte, das alles nicht überlebt hätte, dass ich zum ersten Mal wahrgenommen habe, dass es tatsächlich eine wirkliche, auch homosexuelle Liebe gibt.
Mir ist auch so deutlich geworden, warum Menschen, die wenig bis nichts besitzen, so glücklich sind.
Sie haben ganz bewusst - viel mehr als alle jene Reichen, die so arm sind, dass sie nur ihr Geld haben - als ihren größten Schatz ihr Leben.
Wie wahr sind die Worte des Schlesischen Boten:


Mensch, werde wesentlich! / Denn wenn die Welt vergeht,

So fällt der Zufall weg, / das Wesen, das besteht.

Mittwoch, 4. November 2015

Dienstag, 3. November 2015

Vom Heimweh ihres Heimatlands

Wenn ich dir ernst ins Auge schaute,
klang oft dein Wort so kummerkrank
wie eine leise Liebeslaute,
die einsam einst ein Meister baute,
als seine Seele Sehnsucht sang.

Sie lernte seither leise Lieder
und tönte gern zu Tag und Tanz,-
da greift ein Träumer ihre Glieder:
und wie erwachend weint sie wieder
das Heimweh ihres Heimatlands.

                               Rainer Maria Rilke