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Samstag, 14. November 2015

Guido ist wesentlich!

"Mensch, werde wesentlich!", hat vor wohl 350 Jahren Angelus Silesius seinen Zeitgenossen ins Stammbuch geschrieben. Und es gilt noch heute. Die Frage ist: Geht es nur über Leid, wesentlich zu sein?

Zunächst möchte ich dieses Epigramm des Angelus Silesius wiedergeben, es lautet in seiner unnachahmlichen Form als zweizeiliger Alexandriner:

Mensch, werde wesentlich! / Denn wenn die Welt vergeht,
So fällt der Zufall weg, / das Wesen, das besteht.

Das ist es, was dieser Johannes Scheffler sagen wollte:

Dein Wesen besteht ewig, Mensch. So werde doch -wesen-tlich, wenn möglich, solange die Welt noch besteht!

Am vergangenen Donnerstag habe ich bei Markus Lanz Guido Westerwelle erlebt, den ich ehrlich nie leiden konnte. Ich erinnere mich an den Abend, als die FDP so gut bei der Bundestagswahl abgeschnitten hatte. Da ging er durch die Gegend, als ob ihm ein Stock in den Rücken eingezogen sei, bis zum Anschlag gravitätisch gespreizt, und seine Aussagen waren dermaßen egogeplustert, dass es fast unerträglich war, und ich meine, Angela Merkel angesichts seiner Worte und seines Gehabes anzusehen geglaubt haben zu können, wie sie dachte: Irgendwann kommst auch Du wieder auf den Boden.

Das alles ist Schnee von gestern und Guido Westerwelle hat eine schreckliche Zeit hinter sich. Das wenige, was er in der Sendung berichten konnte, reichte, um zu merken: Dieser Mann war ganz tief unten.

Das wurde deutlich, wenn er erzählte, dass die Krankenschwester ihm vorschlug angesichts der Büschel von Haaren, die im Rahmen der Chemo jeden Morgen auf dem Kissen lagen, doch alles radikal wegzumachen. Oder wenn er erzählte, wie es ist, wenn alle Körperfunktionen versagen und man angewiesen ist auf Pflegende, die einen erträglich halten.

Noch in der Sendung konnte er ja kaum lachen, weil seine Mundschleimhäute noch so angegriffen sind.
Man sah ihm die Spuren seines Kampfes mit dieser aggressiven Form einer Leukämie überdeutlich an.
Aber da sprach ein Mann, der war wesentlich.
Sein ganzes Leid, jener allergische Anfall, als er dachte: So ist es also, wenn man stirbt, die haben diesen Mann so demütig, so aufrichtig, so authentisch, so ehrlich gemacht, dass es für mich unvergesslich ist, diesen Mann erlebt zu haben.
Wenn man ein Beispiel sucht für einen Menschen, der wesentlich geworden ist, dann ist es dieser Mann.
Seitdem quält mich die Frage, ob es tatsächlich so ist, dass man im Grunde gestorben sein muss, um wesentlich zu sein.
Keine Frage, die Bibel sieht das meines Erachtens so: Der Weg führt über Gethsemane und Golgatha, damit das wahre Wesen auferstehen kann.
Bei Guido Westerwelle ist es so.
Mich hat dieser Mann, den ich einstmals nicht abkonnte, so bewegt.
Bewegt hat mich, mit wie viel Liebe er seinen Ehemann angeschaut hat, ohne den er, wie er selbst sagte, das alles nicht überlebt hätte, dass ich zum ersten Mal wahrgenommen habe, dass es tatsächlich eine wirkliche, auch homosexuelle Liebe gibt.
Mir ist auch so deutlich geworden, warum Menschen, die wenig bis nichts besitzen, so glücklich sind.
Sie haben ganz bewusst - viel mehr als alle jene Reichen, die so arm sind, dass sie nur ihr Geld haben - als ihren größten Schatz ihr Leben.
Wie wahr sind die Worte des Schlesischen Boten:


Mensch, werde wesentlich! / Denn wenn die Welt vergeht,

So fällt der Zufall weg, / das Wesen, das besteht.

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