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Sonntag, 22. November 2015

Zum Totensonntag: O du verlorener Gott Du unendliche Spur . . .

Im Gedächtnis Rainer Maria Rilkes lebt Orpheus weiter, der dem Treiben der Mänaden, jener Kräfte, die ein ungezügeltes Treiben, bar allen inneren Haltes, verkörpern, zum Opfer fiel. Seinen letzten Augenblicken setzt Rilke ein Denkmal, indem er darauf verweist, dass Ordnung wahrhaft erbauendes Spiel überleben lässt. Und er verweist uns darauf, dass der Tod all derer, die sterben, solchen Kräften zum Opfer fallend, nicht sinnlos ist. Mit Orpheus lassen sie uns zu Hörenden werden.


Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner,
da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel,
hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner,
aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel.

Keine war da, dass sie Haupt dir und Leier zerstör.
Wie sie auch rangen und rasten, und alle die scharfen
Steine, die sie nach deinem Herzen warfen,
wurden zu Sanftem an dir und begabt mit Gehör.

Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt,
während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte
und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt.

O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!
Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft
verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.




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