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Donnerstag, 31. Dezember 2015

Und unsern kranken Nachbarn auch!

So lapidar die Schlussworte des liebsten Volksliedes der Deutschen dahingesagt wirken mögen, so in Stein gemeißelt - lapidar leitet sich von lat. „lapis“, Stein, ab - und bedeutsam mögen sie sein, so bewusst gewählt wie zu Roms Zeiten, als man Botschaften und Hinweise per lapis lapidar übermittelte.

1779 wird das Abendlied veröffentlicht und seine Schluss-Strophe lautet:



So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbarn auch!


Blenden wir noch einmal mehr als 300 Jahre weiter zurück:

Die Menschheit macht sich gerade mittels der Geburt eines gewissen Christoph Columbus auf den Weg, Amerika zu entdecken (was bekanntlich so nicht stimmt); eben war Konstantinopel von den Osmanen unter Mehmed II. erobert und das Byzantinische Reich ist Geschichte. Und nur wenige Jahrzehnte ist es her, dass Johannes Hus in Konstanz öffentlich verbrannt worden war, da finden wir in einer Handschrift von 1467 einen Text:



Es ist ein Schnee gefallen,
Und ist es doch nit Zeit:
Man wirft mich mit den Ballen
Der Weg ist mir verschneit.

Mein Haus hat keinen Giebel,
Es ist mir worden alt.
Zerbrochen sind die Riegel,
Mein Stüblein ist mir kalt.

Ach Lieb, laß dich´s erbarmen
Daß ich so elend bin,
Und schleuß mich in dein Arme,
So fährt der Winter dahin.


Gleich zu Beginn vermitteln die Worte des Liedes, dass man auch ausgangs des Mittelalters Metaphern einzusetzen wusste, denn seine Klage macht deutlich, dass Schnee und Ballen für Schicksalhaftes stehen. Nicht nur der Weg, der Lebensweg ist unwegbar und mit dem Fehlen der Giebelwand ist das Dach Wind und Wetter ausgesetzt. Alles Weitere ist eine Frage der Zeit. 

Das Haus allerdings steht für das Haus des Lebens, das ungeschützt ist, und ja, das Innerste ist ausgekühlt. Das dreifach vorkommende ist mir lässt deutlich werden, wie sehr hier jemand auf ganz persönliche Weise fleht und seine Not gesteht. Hilfe von außen ist zwingend, sonst besiegt die Kälte alles Leben, auch das des oder der Sprechenden.

Hie und da werden im Lauf der Zeiten Strophen hinzugetextet und das Lied zu einem Liebeslied gemacht werden. Aber es geht nicht um das Schicksal zweier Liebender, sondern darum, dass hier jemand in höchster Not die LIEBE um Erbarmen und Hilfe bittet, damit das Elend, im Bild des Winters zum Ausdruck gebracht, sich verflüchtigen möge.

Mancher mag über die Weihnachtstage auf das schleuß getroffen sein, wenn er Lobt Gott ihr Christen alle gleich gesungen hat und es dort in der vierten Strophe heißt:



Heut’ schleußt er wieder auf die Tür
zum schönen Paradeis;
der Cherub steht nicht mehr dafür,
Gott sei Lob, Ehr' und Preis.


Doch von all dem ist das lyrische Ich unseres Liedes weit entfernt. Seine Not ist elementar und existentiell und es kann nur hoffen, dass die so angesprochene LIEBE  ein liebendes Herz finden möge, das jener eine Hand zur Verfügung stellt.

Auf diesem Hintergrund wird deutlich, wie bedeutungsvoll die Schlussworte von Matthias Claudius, ja, dass sie womöglich sehr bewusst gewählt gewesen sein mögen - und das in einer gewissen prophetischen Ahnung nicht von ungefähr, begann doch zehn Jahre nach Veröffentlichung des Liedes die französische Revolution, von der sich zunehmend mehr Leute abwenden sollten, weil sie nach anfänglicher Begeisterung erkennen mussten, wie viel Blut floss und wie grausam der Mob - Stichwort Septembermassaker - toben konnte, von den napoleonischen Kriegen und ihrem Elend ganz zu schweigen.

Wendet sich das lyrische Ich an die Liebe, so wendet sich Mattias Claudius an Gott:



Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbar auch!


Ja, darum dürfen wir durchaus bitten und viele Menschen in Nordengland werden es im Moment tun, zu bitten, einfach nur zu bitten, viele Menschen in Syrien, in der Ukraine, in Afghanistan, in Kurdistan - wo auch immer.


Wer wirklich in Not ist, lernt zu bitten.
Anfang und Ende sind besondere Räumlichkeiten in einem Text, einem Gedicht. Und wenn in einem solchen von dem Mond, von Gott und den Sternen die Rede war und doch das letzte Wort dem Nachbarn gewidmet wird, dann ist jener auch wirklich gemeint, auch der Nachbar in mir, der über lange Zeiten nur ein Schattendasein fristet; irgendwann darf auch er uns berühren.

Unser Nachteil ist es nicht.

Im Gegensatz zu unserem Bundespräsidenten hatte das lyrische Ich der Handschrift noch das innere Vermögen, die Liebe anzusprechen.
Gauck sprach in seiner Weihnachtsansprache von Menschenfreundlichkeit.

Auffallend ist ja, dass Ex-Pfarrer Gauck immer nur zutiefst verschwurbelt den christlichen Glauben einbezieht. Angela Merkel, die sonst weit weniger als Gauck heuchelt, wünscht am Ende ihrer Neujahrsansprachen in der Regel Gottes Segen, ein Umstand, der vielleicht eher ihrem Elternhaus als ihrer Einstellung und politischen Praxis geschuldet ist.

Das aber macht uns auf einen Umstand aufmerksam, der sowohl das Abendlied von Matthias Claudius als auch das Lied der Handschrift so aktuell und zugleich brisant sein lässt:
Die Werte des einstmals christlichen Abendlandes, von denen immer mal wieder gesprochen wird, die gibt es nicht mehr.
Wir sollten das endlich offen eingestehen.


Das macht gerade Gaucks indifferentes Gesäusel deutlich. Immerhin taucht bei ihm noch eine nachchristliche Vokabel wie Weihnachtsgeschehen auf, mehr verbietet wohl die Rücksicht auf muslimische Brüder und Schwestern (die sicherlich ganz und gar nichts dagegen hätten, Genaueres zu hören). 
Jedenfalls bleibt es für unseren werten Bundespräsidenten auf dem Hintergrund seines kulturellen Devotismus bei angesprochenen Buchstabenhülsen.

Und das ist auch gut so, mehr wäre nur noch mehr geheuchelt.

Was wir als Werte bezeichnen, sind auf der Basis ökonomischer Kosten-Nutzenrechungen Eigenschaften, die die notwendige Schmiere abgeben, damit unsere Wirtschaft ohne großes Gequietsche läuft, unbezahlt und deshalb geduldet. In jenem Sinne, in dem sie einst berufen worden waren, als unbezahlbare Elexiere unseres Lebens, existieren sie schon lange nicht mehr.

Werte also sind das, was in diesem Rahmen und damit das öffentliche Leben funktioniert bereitwillig und unbezahlt geduldet wird. In dem Sinn jedoch, wie wir sie einst berufen haben, existieren sie schon seit Jahren nicht mehr.

Wir sollten sie endlich auch offiziell ad acta legen und niemand sollte sich mehr auf sie berufen. Ich meine, selbst die Kirchen tun es ja schon lange höchst selten, weil sie wohl spüren, dass der Klang diesbezüglicher Worte merkwürdig hohl scheppert (was für mich mit der Hohlheit des Christentums, wie es C.G. Jung ansprach, zusammenhängt).

Umso erfreulicher ist es für mich, dass man das für das offizielle und veramtete Deutschland so formulieren kann, nicht aber für doch recht viele seiner Bürger.

Denn jene Tugend, jener Wert, den ein Mann ausgibt, der zu den ganz wenigen Würdenträgern gehört, die ich authentisch finde, der Papst nämlich, gerade auch dann, wenn er von Barmherzigkeit spricht, die zeigt sich in Deutschland und hat sich 2015 auf eine Weise gezeigt, die mich dieses Land wieder aufs Neue hat lieben lassen; dieses Mal weniger wegen seiner wunderschönen Landschaften, die ich so mag, sondern wegen seiner Menschen, die ihre Hand der Liebe zur Verfügung gestellt haben und den, den das Schicksal zu ihrem Nachbarn gemacht hat, als Nachbarn und Nächsten annahmen.

Man mag es Schicksal oder Gott nennen, aber es gibt wohl jene Instanz, die den Menschen ihr Schicksal zuweist, das sie tragen können. Insofern ist es eine schicksalhafte Fügung, dass Deutschland jener so großen Herausforderung 2015 konfrontiert wurde.

Ich bin so froh, dass es sie angenommen hat und jene Werte lebt, die verloren schienen und wünsche, dass es künftige Herausforderungen meistern möge.
Daran wird es wachsen und jene Staaten, die nicht ihre Hand absichtsvoll der Liebe liehen, werden dies noch bedauern.



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Donnerstag, 24. Dezember 2015

Wie ist die Welt so stille!

Vor allem die Stille führt uns zu der Erkenntnis, dass die Welt ein Buch ist, in dem wir lesen, das wir aber zugleich selbst schreiben.

In diesem Buch lesen wir auch von uns, und indem wir zugleich aufschreiben, dass wir das tun, schaffen wir uns selbst, ein unendlicher Prozess, es sei denn, wir finden einen Namen für all das.

Diesen Namen aber vermag uns nicht unser Verstand zu geben. Er kommt von tief innen und von weit oben zugleich.

Michael Ende und seiner Unendlichen Geschichte verdanke ich obigen Gedanken; er und Matthias Claudius und Joseph von Eichendorff waren und sind Brüder im Geiste.

Bezeichnend, dass Matthias Claudius' Blick sich in seinem Abendlied, aus dem die Worte der Überschrift ja stammen, zuerst nach oben richtet, zum Himmel; doch im Anschluss geht sein Blick auch in den folgenden Strophen 
immer wieder zur Erde, so, als wolle er die Weisheit des unendlichen Alls, der Welt, wie er schreibt, in die stille Kammer holen, die bestenfalls in uns ist.

Ganz anders ist es im Weihnachtsgedicht des Joseph von Eichendorff, in dessen Lyrik immer wieder die Sehnsucht nach der Heimat zu spüren ist, dem verlorenen Schlossgut der Eltern auf den Oderterrassen, ein Verlust, der vom Schicksal so vorgesehen gewesen sein mag, damit die Sehnsucht als spirituelle Kraft in seinem Werk so überzeugend Ausdruck finden konnte.


In seinen Strophen ist der Blick des lyrischen Ichs zunächst auf die menschlich reale Ebene gerichtet, die er durchaus mit Distanz, aber zugleich empfindsam einfühlsamem und sinnendem Blick wahr- und aufnimmt.


Markt und Strassen steh'n verlassen
still erleuchtet jedes Haus
sinnend geh ich durch die Gassen
alles sieht so festlich aus.
An den Fenstern haben Frauen
buntes Spielzeug fromm geschmückt
tausend Kindlein steh'n und schauen
sind so wunderstill beglückt.

Still wird zu wunderstill und Frieden und Glück sind greifbar nahe; es ist alles geschmückt, fromm geschmückt. In dieser Weihnachtsnacht ist alles fernab jeglicher Profanität. Kein Haus ist dunkel, und wie es im Traum oft der Fall ist, mögen die still erleuchteten Häuser für die Seelen der Menschen stehen und die tausend Kindlein für alle, auch die inneren Kindlein der Erwachsenen, die angesichts der Stillen Nacht wieder ihr kindliches Staunen und ihre Demut vor dem großen Geschehen entdecken wollen.

Und nun weitet sich das Geschehen auch bei Eichendorff, denn was sich im Außen abspielt, ereignet sich auch im Inneren:


Und ich wandre aus den Mauern
bis hinaus ins freie Feld
hehres Glänzen, heil'ges Schauen
wie so weit und still die Welt.

Dieses Empfinden-Können, das die Seele des lyrischen Ichs zu zeigen vermag, lässt alle Mauern hinter sich. Sie ist frei für das Glänzen und Schauen, für die Weite und Stille der Welt.

Im ganzen Gedicht ist durch die fortwährenden Zeilensprünge eine Vorwärtsbewegung, begleitet durch die Alliterationen wie hehr und heilig und weit und Welt, die durch den Buchstabenklang alles ins Innere tragen, verstärkt durch die Zwillingsformen wie hehr und heilig, weit und still, steh´n und schauen.

Das lässt sogar die Sterne lebendig werden und die Verse in die Schluss-Strophe münden:


Sterne hoch die Kreise schlingen
aus des Schnee's Einsamkeit
steigt's wie wunderbares Singen
Oh Du gnadenreiche Zeit!

Warum ist die Stille so wichtig?

Wenn die Seele zur Ruhe kommt, ist es, wie wenn der See still und klar ruht, wie es in Leise rieselt der Schnee heißt. Und wenn der See still und klar ruht, dann kann sich der Himmel im Wasser, das ja immer ein Symbol der Seele ist, spiegeln. In den aufgewühlten Wassern ist die Welt laut, ihre Lichter schreien, ihre Kraft ist Gewalt, ihr Glanz ist Fassade und Politur.


Wir erinnern uns, dass Jesus den tosenden Sturm des Sees Genezareth zur Ruhe brachte und eine Stille eintrat. Wie so oft ist auch hier das Geschehen tief symbolisch und reicht bis in die Weihnachtsnacht. Ihre Stille.

Für die Menschen früherer Zeiten war es ein notwendiger Brauch an Sylvester, dass man die bösen Geister vertreibe. Doch wissen wir, dass das ständige Lärmen, das unsere Kultur auszeichnet, längst vor allem die guten vertreibt.

Eigentlich aber ist in unserer Kultur der Wert der Stille tief verankert, bis hinein in den 23. Psalm, den Martin Luther ruhig genauer hätte übersetzen können, wenn es dort eigentlich heißt:


Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum stillen Wasser.

David, judäisch-israelischer König und Verfasser dieses Psalms, wusste sehr wohl, dass gerade das stille Wasser Tiefe gibt und Kraft.

Die Stille der Nacht, die Stille Nacht, die Heilige Nacht, will in die Tiefe führen des eigenen Inneren, wo die Geburt jenes Lichts stattfinden kann, das unser Leben gestalten und unsere Kultur ihrer Bestimmung zuführen will.

Ich möchte alle Leser weihnachtlich grüßen, wie schon im letzten Post mit Worten des von mir so geschätzten Friedrich von Bodelschwingh, der allen seelisch Kranken und Behinderten eine Heim- und Heilstätte gab:



Nach Hause kommen, das ist es, 
was das Kind von Bethlehem allen schenken will, 
die weinen, wachen und wandern auf dieser Erde.



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Dienstag, 22. Dezember 2015

Friedrich von Bodelschwinghs Vermächtnis. - Seltsam, wie aktuell seine Worte gerade für Weihnachten 2015 sind


Eine leere Krippe. Was wäre, wenn sie leer bliebe?
Da mögen die Worte des Pfarrers und Begründers von Heilstätten für Behinderte  und Geisteskranke, Friedrich von Bodelschwingh, ganz besonderes Gewicht erhalten:


Wenn die Christenheit diesseits und jenseits des Meeres sich besinnen wollte, wie unermeßlich viel sie zu tun hat, um das Elend zu lindern, die Versinkenden zu retten, den Heimatlosen eine Heimat schaffen und das Licht des Evangeliums in die dunkelsten Winkel scheinen zu lassen, wir hätten wahrhaftig keine Zeit,uns zu zanken um irdische Dinge.

In jener Zeit, in der Bodelschwingh (1831-1910) lebte, war es keine Selbstverständlichkeit, dass man sich um Behinderte und Geisteskranke kümmerte und ihnen ganz bewusst Würde gab.

So wie es seit 2000 Jahren nicht selbstverständlich ist, dass Menschen, die ohne Unterkunft und in Not oder auf der Flucht sind, ein Heim, eine Herberge erhalten.
Seltsam, wie prophetisch und mahnend aktuell Bodelschwinghs Worte sind.





PS Es ist die Krippe der katholischen Herz-Jesus-Kirche in Bad Kissingen. Erst während der Christmette an Weihnachten bringen Kinder das Kind und legen es in seine Krippe.




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Freitag, 18. Dezember 2015

Dass auf empörter Erde der neue Bund gestiftet werde!

Vor wenigen Wochen stand ich in Schweinfurt vor einem mir bis dahin unbekannten Denkmal und - welch ein Zufall - am selben Tag erhielt ich eine Mail, in der ein lieber Freund mich auf Friedrich Rückert hinwies.

Viele kennen seine Kindertotenlieder, aber verbinden sie zumeist mit Gustav Mahler, der einige wenige der über insgesamt vierhundert vertonte, womöglich im Innersten seiner Seele schon ahnend, dass ihm in wenigen Jahren ein vergleichbares Leid beschieden sein sollte wie Friedrich Rückert (1788-1866), der am Tod zweier Kinder fast zerbrach und schrieb:

Die von mir das Leben hatten,
Haben es zu früh verloren;
Soll die Mutter ihrem Gatten
Haben sie umsonst geboren?
Nein, ich hab' es mir geschworen,
Euer Leben fort zu dichten,
Daß mir nichts es kann vernichten.
An diese seine toten und in ihm so lebendigen Kinder adressiert schrieb er:

Ihr habet nicht umsonst gelebt;
Was kann man mehr von Menschen sagen?
Ihr habt am Baum nicht Frucht getragen
Und seid als Blüthen früh entschwebt,
Doch lieblich klagen
Die Lüfte, die zu Grab euch tragen:
Ihr habet nicht umsonst gelebt
In unser Leben tief verwebt,
Hat Wurzeln euer Tod geschlagen
Von süßem Leid und Wohlbehagen
Ins Herz, aus dem ihr euch erhebt
In Frühlingstagen
Als Blüthenwald von Liebesklagen;
Ihr habet nicht umsonst gelebt.

Wie sehr muss dieser Mann seine Kinder geliebt und wie sehr muss er sie vermisst haben! Kaum jemand hat jemals solch eine Totenklage angestimmt und es ist, als ob Friedrich Rückert sie stellvertretend für alle Eltern, die mit das Entsetzlichste, was es auf Erden gibt, dass nämlich Kinder vor ihren Eltern sterben, was in Zeiten von Krieg und Flucht leider immer wieder geschieht, erleben müssen.

Friedrich Rückert gehört zu jenen großen Deutschen, die einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben sind und auch bleiben werden. Doch er ist einer ihrer großen Versöhner. Er suchte nicht nur in seiner Dichtung den Tod mit dem Leben zu versöhnen, Freimaurertum mit romantischer Poetik, den Fernen Osten und den Nahen Osten mit unserer Welt in der Weisheit des Brahmanen und seiner Koran-Übersetzung, als einer, der übrigens über 44 Sprachen verfügte.

In jener erstgenannten Gedichtsammlung lesen wir:

Nichts Bessres kann der Mensch hienieden thun, als treten
Aus sich und aus der Welt und auf zum Himmel beten.
Es sollen ein Gebet die Worte nicht allein,
Es sollen ein Gebet auch die Gedanken sein.
Es sollen ein Gebet die Werke werden auch,
Damit das Leben rein aufgeh' in einen Hauch.

Dabei war Rückert zugleich sehr diesseitig; das bezeugen seine vielen Lieben; bevorzugt nach einem Wohnungswechsel verliebte er sich aufs Neue, und der ein oder andere Sonettenkranz - für diese Form der Dichtung ist ein hoher Form- und Gestaltungswille unerlässlich - mag das bezeugen. Zugleich belegen sie, dass es Rückert auch um die Versöhnung von Form und Inhalt war.

Form ist ja nicht nur Schablone, sondern nur sie kann wirklich dem Inhalt jene Flügel verleihen, die letzteren in die Seelen der Menschen Eingang finden lässt.

Das trifft auch auf Verse Friedrich Rückerts zu, die als einzige dieses großen Protestanten Eingang in das evangelische Gesangbuch fanden. Auch sie sprechen von Versöhnung, von einer entscheidenden sogar, nämlich von der Versöhnung des Reiches Gottes mit dem Erdenreich.

Wenn auch Jesus darauf verweist, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei, so sollte man nicht vergessen, dass die Welt, von der Jesus spricht, nicht eine lokale, geographische ist, sondern jene, die sich zu allen Zeiten um das goldene Kalb schart. Und dies geschieht nicht nur in Las Vegas, sondern immer da, wo Menschen die geistig toten Gesänge Baals anstimmen.

Dass eine Versöhnung beider Welten auch auf unserer Erde angestrebt werden kann, ja immer wieder auch einmal möglich sein mag, mag mancher Weihnachtsgottesdienst, manch kindliches Krippenspiel und auch das folgende Gedicht Rückerts bezeugen, das sich zu Beginn eigentlich in der lutherischen Perikopenordnung auf den dem ersten Adventssonntag zugeordneten Bibeltext bezieht, aber weit über diesen hinausweist. Sein Inhalt will in unsere heutige Zeit nicht mehr passen.

Wer schon sieht sich in niedern Hüllen, wer begegnet wirklich allen Menschen, die guten Willens sind, auch wenn es Muslime aus Afghanistan oder Syrien sind, mit Friedenspalmen?

Sehen wir nicht, wie wenig sich die Welt empört, wenn Länder Flüchtlingen Aufnahme verweigern, und wenn schon, dann doch nicht Muslimen!
Gut, dass es Deutschland tut, notwendigerweise mit der auf dem Hintergrund aktueller Ereignisse gebotenenen Vorsicht.

Wer Zwietracht sät, wird keinen Frieden ernten. Deshalb ist Friedrich Rückerts Lied so wichtig:

1. Dein König kommt in niedern Hüllen,
ihn trägt der lastbarn Es'lin Füllen,
empfang ihn froh, Jerusalem!
Trag ihm entgegen Friedenspalmen,
bestreu den Pfad mit grünen Halmen;
so ist's dem Herren angenehm. 
2. O mächt'ger Herrscher ohne Heere,
gewalt'ger Kämpfer ohne Speere,
o Friedefürst von großer Macht!
Es wollen dir der Erde Herren
den Weg zu deinem Throne sperren,
doch du gewinnst ihn ohne Schlacht. 
3. Dein Reich ist nicht von dieser Erden,
doch aller Erde Reiche werden
dem, das du gründest, untertan.
Bewaffnet mit des Glaubens Worten
zieht deine Schar nach allen Orten
der Welt hinaus und macht dir Bahn. 
4. Und wo du kommst herangezogen,
da ebnen sich des Meeres Wogen,
es schweigt der Sturm, von dir bedroht.
Du kommst, daß auf empörter Erde
der neue Bund gestiftet werde,
und schlägst in Fessel Sünd und Tod. 
5. O Herr von großer Huld und Treue,
o komme du auch jetzt aufs neue
zu uns, die wir sind schwer verstört.
Not ist es, daß du selbst hienieden
kommst, zu erneuen deinen Frieden,
dagegen sich die Welt empört. 
6. O laß dein Licht auf Erden siegen,
die Macht der Finsternis erliegen
und lösch der Zwietracht Glimmen aus,
daß wir, die Völker und die Thronen,
vereint als Brüder wieder wohnen
in deines großen Vaters Haus.





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Mittwoch, 16. Dezember 2015

Vorweihnachtliche Bescherung in Bad Kissingens Gartenanlagen. - Wer nur ist für den Vandalismus verantwortlich?

Die Kurgäste sind weg, da kann die Stadt ihr wahres Gesicht zeigen?
Oder kann alles der Gartenbaufirma angelastet werden, die den in den folgenden Bildern gezeigten Vandalismus zu verantworten hat?
Ist wirklich nur sie verantwortlich?
Kontrolliert die niemand?
Niemand wird mir unterstellen können, ich würde bevorzugt dieses Gesicht von Bad Kissingen zeigen, im Gegenteil (man verwende den Tag Bad Kissingen am Ende des Post und überzeuge sich vom Gegenteil).
Aber was ich da gesehen habe, hat mich schon erschüttert und übrigens auch die Menschen, die ich während der Aufnahmen gesprochen habe.
In dem Jahr, in dem ich hier wohne, habe ich immer wieder Leute getroffen, die sehr enttäuscht waren über die Entwicklung, die Bad Kissingen genommen hat; mehrere trugen sich gar mit dem Gedanken, wieder wegzuziehen.
Wenn ich sehe, was die Stadtverwaltung den Bürgern, die fast täglich in den Anlagen spazieren gehen, zumutet, beginne ich zu verstehen. Schließlich war es so, dass nicht einmal nach diesen Herbstaktionen, die dazu dienen sollten, das Laub zu beseitigen, die Wege wieder sauber gemacht worden waren; der Regen hat sie mittlerweile notdürftig gereinigt.
Wenn nur die Wege das Problem wären . . .
Als ob die Bürger Bad Kissingen nichts wert wären, als ob nur die Kurgäste zählen.
Diese Einstellung scheint Bad Kissingen auszuhöhlen und seine Einwohner erheblich zu vergrätzen.
Auf Dauer ist das eine Negativpropaganda mit Lawinencharakter.

Die Bilder sprechen für sich (draufklicken und vergrößern, dadurch wird das Ausmaß erst richtig sichtbar) :


Das könnte unten fast ein Panzer gewesen sein!


hier sieht es so wie an vielen Stellen aus:


Für die, die fast täglich hier gehen, ist da kein Gern-Gehen mehrmöglich.
Sich entspannen kann hier niemand mehr - und das nun einen ganzen Winter lang.
Man kann auch Winter genießen, aber hier nicht:


Ich selbst habe das große Fahrzeug gesehen, dass das Laub aufnehmen sollte. Das war auf Anhieb erkennbar, dass da kein Rasen zurückbleibt. Warum man dennoch weitergemacht hat . . . klar, wenn es die Maschinen schon gibt, die haben ja schließlich viel gekostet . . . da können sie nur gut sein!



Ob die Regressansprüche für diese Zerstörung schon verhandelt werden?
Wer zahlt den Schaden, der so nie und nimmer nötig war?
Auch die einbrechende Dunkelheit beschönigt nichts.


Von November bis März müssen das die Bürger Bad Kissingens sehen.
Von anderen Aktionen ganz zu schweigen.



Igendwie habe ich den Eindruck, dass in Bad Kissingen einige Leute ganz wenig bis keine Ahnung von Stadtplanung und Stadtkultur haben. Mir persönlich gefällt es in Bad Kissingen gut und ich fühle mich auch weitgehend wohl und weiß vieles zu schätzen (siehe meine anderen Posts). Allerdings habe ich den Eindruck, dass manchen nicht so recht bewusst ist, dass das, was zählt, die kleinen, liebevoll gestalteten Dinge sind, die Hingucker, wo Leute stehen bleiben und sagen: Och, das ist mal schön . . . Es sind selten die groß(kotzig)en Dinge, die das Herz erfreuen und im Gedächtnis bleiben, sondern die spürbar liebevolle Hand, die Räume und Orte wirklich Heimat sein lassen.

Noch ein paar Bilder zum "Genießen" der so bekannten Kurperle Deutschlands - eigentlich kaum glaubhaft, dass heute noch jemand sich erlaubt, mit der kostbaren Natur so umzugehen.
Offensichtlich hat sich im Bewusstsein einiger noch gar nichts verändert, leider ganz besonders auch bei denen, die Naturpfleger - das sind Gärtner eigentlich - sein sollten:


Nach wie vor könnten noch Rasen und Wiese da sein, 
wo jetzt nur noch Fahrspuren und aufgewühlter Acker ist:


Wenn man überlegt, wie groß der Aufwand ist, hier wieder Grünflächen sichtbar werden  zu lassen, 
dann hätten einige Leute mit entsprechenden Gebläsen Zeit sparen und den Kissingern ihren Park lassen können.
Lieber ein paar Rosen im Sommer weniger und dafür Parkpflege mit Herz und Verstand!




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Samstag, 12. Dezember 2015

Ohne Gott geht´s auch, wenn nicht sogar besser!

Der aktuelle Atheismus ist der Versuch, das Dunkle in uns aus der Welt zu nivellieren. Gelingen könnte er, weil Christen gern dasselbe machen: Sie erkennen das eigene Dunkel in sich nicht an und projizieren es auf den, der es tragen soll. So aber treibt es munter seine Spielchen in ihnen.

Das gilt für Theologen und Kardinäle, Politiker, Hochleistungssporter und Normalbürger; lassen wir uns nicht von dem gekonnten Fascienspiel ihrer Gesichtsmuskulatur irritieren.

Bei vielen, vielleicht sogar den meisten Menschen mag es auf der Ebene ihres Mikrokosmos hinsichtlich der Belichtung des eigenen Inneren so sein, wie es auf der makrokosmischen Ebene nach Ansicht der Astronomen ist:

Wir sind uns 5 Prozent des Universums bewusst, 25 Prozent sind dunkle Materie und 75 Prozent sind dunkle Energie.

Wie oben so unten, so ließ uns schon der weise Hermes Trismegistos auf seiner Tabula smaragdina wissen, und nicht zufällig lesen wir im Vater unser: Wie im Himmel so auf Erden. Diese Aussagen sind gleich der Auffassung: Was innen ist, ist dem, was außen ist.

Goethe wusste das („Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; / Denn was innen, das ist außen“), wenn er schrieb, dass auch im Inneren ein Universum sei.

Natürlich haben wir alle diese dunkle Energie nicht in uns, sondern die ANDEREN.

Das Verfahren allerdings, das momentan weitgehend praktiziert wird, ist, möglichst überhaupt nicht mehr hinzuschauen, dann ist das Unbewusste weder so noch so. Alles ist lau, seicht, indifferent. Deshalb der gewaltige Aufwand, ständig etwas lostreten zu müssen, eine Fete nach der anderen zu feiern, alles ins Uferlose zu steigern. Es gilt die innere Stimme, die Stimme des Gewissens zu übertönen.

Oder man urteilt heftigst, dann ist alles Unbewusste, dessen Wahrnehmen immer mit einer Bereitschaft zu einem offenen Prozess verbunden ist, in die dunkelsten Tiefen versenkt. Und wie viele urteilen nicht so, dass man glauben soll, sie kennen in allem 100 Prozent! Vor allem wollen sie sich das selbst weismachen.

Beide Verfahren, die seichte Indifferenz und das harte Urteil, schließen aus wahrzunehmen, dass das Leben aus Gegensätzlichkeiten besteht, die wir erforschen sollten und mit denen wir lernen müssen umzugehen. Wer das Dunkle nicht zur Kenntnis nimmt, ist in Wahrheit sein Knecht. Er glorifiziert womöglich das Licht und merkt nicht, dass es das luziferische ist, das Licht des Lichtträgers. Dessen Licht allerdings ist kalt. Wer aber immer nur von Licht und Liebe redet, der merkt nicht, wie kalt sein Licht ist.

Wer sich nicht auf das Wagnis der Erkenntnis einlässt, wird nie merken, dass das Dunkle sich auch in grell gleißendes Licht tauchen kann.

Wir können ein Leben lang diesen Erkenntnisprozess verhindern, nur:

Das Unbewusste hat Zeit! Seine Dunkelheit und sein Licht.

Und was für das Unbewusste gilt, gilt für Gott, gilt für die wahren Werte.

Vielleicht laufen die katholische und evangelische Kirche vereinzelt noch ihren Schäfchen nach, aber Gott oder die Werte oder das, was Platon Ideen nannte, laufen weder der Kirche noch den Schäfchen nach, wie ich vermute. Diese Instanzen lassen den Kirchen und den Schafen die Zeit, die sie brauchen. Das können Äonen und Zyklen sein - die Freiheit hat jeder.

Dass sich die Erde momentan in einer großen Umwälzung befindet, dürfte niemandem entgangen sein. Es mag wieder so laufen, wie damals, als Atlantis unterging. Es kann auch anders gehen. Die Hopi-Indianer sind sich in ihren Quellen der Tatsache bewusst, dass die damalige Welt zu Teilen unterging, weil die Menschen sich in bestimmter Weise verhielten. Und wenn wir sehen, wie wir binnen weniger Jahrzehnten die Weltmeere und den Orbit vermüllt haben, dann sollten wir nicht glauben, dass es in uns nicht vergleichbar aussieht. Von wem kommt der Dreck, wenn nicht von uns als Menschheit.

Noch vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren wären C.G. Jungs folgende und so decouvrierende Ausssagen im Rahmen seiner Einleitung in die religionspsychologische Problematik der Alchemie absolut zutreffend gewesen, weil sie die Wahrheit über das Christentum Europas wirklich offenlegen.

Nur ist es mittlerweile so, dass die Realität Jungs Worte überholt hat: Es gibt wirklich kaum noch Christen, wirklich überzeugende eh sehr selten, und die hohlen Christen, die man früher mitgezählt hat, werden zunehmend ehrlich und machen sich religionsfrei.

Warum Jungs Aussagen aber dennoch interessant sind: Weil, was er sagt, nicht nur auf das Christentum, sondern auch auf die reale Existenz unseres Wertebewusstseins zutrifft.

Klar sollten die Leute weiterhin nicht in U-Bahnen rauchen, in öffentlichen Lokalen rülpsen oder in Mülleimer urinieren; aber solange alles im Rahmen bleibt, brauchen wir Werte, wie sie gar den biblischen Früchten des Geistes entsprechen - Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit - nun wirklich nicht mehr. Eher behindern sie doch, seien wir mal ehrlich, unsere liberale Gesellschaft. Und wie hohl und fassadenhaft religiös unsere Gesellschaft ist, führt uns unser Bundespräsident in schöner Regelmäßigkeit vor Augen, der sein Theologenmäntelchen abgelegt hat, als wäre er nie einer gewesen und seit Jahren dahersäuselt, dass ich immer denke, wenn ich ihn so höre, es müssten alle Leute auf die Knie fallen und bitten: Sei still, bitte sei still, wir können es nicht ertragen!

Das ist nun mein ganz persönliches Gefühl, aber ich glaube, so alleine bin ich da nicht.

Ich zitiere Jung und ich möchte darum bitten, immer dann, wenn er von Innerem spricht, also auch von den Figuren des Inneren und dem Christentum, daran zu denken, dass er auch von unseren Werten sprechen könnte:

Es kann daher der Fall eintreten, dass ein Christ, der zwar an alle heiligen Figuren glaubt, doch im Innersten der Seele unentwickelt und unverändert bleibt, weil er den ganzen Gott „draußen“ hat und ihn nicht in der Seele erfährt. Seine ausschlaggebenden Motive und seine maßgebenden Interessen und Impulse erfolgen aus der unbewussten und unentwickelten Seele, die so heidnisch und so archaisch wie nur je ist, und keineswegs aus der Sphäre des Christentums (. . .)

Die großen Ereignisse unserer Welt, die von Menschen beabsichtigt und hervorgebracht sind, atmen nicht den Geist des Christentums, sondern des ungeschminkten Heidentums. Diese Dinge stammen aus einer archaisch gebliebenen seelischen Verfassung, welche vom Christentum auch nicht von Ferne berührt worden ist (. . .)

Die christliche Kultur hat sich in erschreckendem Ausmaß als hohl erwiesen: sie ist äußerliche Politur; der innere Mensch aber ist unberührt und darum unverändert geblieben. Der Zustand der Seele entspricht nicht dem äußerlich Geglaubten. Der Christ hat in seiner Seele mit der äußerlichen Entwicklung nicht Schritt gehalten. Ja, es steht alles äußerlich da in Bild und Wort, in Kirche und Bibel. Aber es steht nicht innen. Im Innern regieren archaische Götter, wie nur je: das heißt, die innere Entsprechung des äußeren Gottesbildes ist aus Mangel an seelischer Kultur unentwickelt und darum im Heidentum steckengeblieben. Die christliche Erziehung hat zwar das Menschenmögliche geleistet; aber es genügte nicht. Zu wenige haben es erfahren, dass die göttliche Gestalt innerstes Eigentum der eigenen Seele ist. Ein Christus ist ihnen nur außen begegnet, aber nie aus der eigenen Seele entgegengetreten; darum herrscht dort noch finsteres Heidentum, welches zum Teil mit nicht mehr zu leugnender Deutlichkeit, zum Teil in allzu fadenscheiniger Verhüllung die sogenannte christliche Kulturwelt überschwemmt.

Die christliche Mission predigt zwar den armen, nackten Heiden; aber die inneren Heiden, die Europa bevölkern, haben vom Christentum noch nichts vernommen. Das Christentum muss notgedrungenerweise wieder von vorne beginnen, wenn es seiner hohen Erziehungsaufgabe genügen soll. Solange die Religion nur Glaube und äußere Form und die religiöse Funktion nicht eine Erfahrung der eigenen Seele ist, so ist nichts Gründliches geschehen. Es muss noch verstanden werden, dass das „mysterium magnum“ nicht nur an sich vorhanden, sondern auch vornehmlich in der menschlichen Seele begründet ist. Wer das nicht aus Erfahrung weiß, der mag ein Hochgelehrter der Theologie sein; aber von Religion hat er keine Ahnung, und noch weniger von Menschenerziehung.


Aufschlussreich ist eine Bemerkung Jungs, die sich bereits gleich zu Beginn seiner kleinen Schrift findet:

Das Vorbild Christus hat sich mit der Sünde der Welt beladen. Ist es aber ganz draußen, so ist auch die Sünde des Einzelnen draußen und damit ist letzterer mehr Fragment als je, denn oberflächliches Missverstehen eröffnet ihm einen bequemen Weg, seine Sünden buchstäblich "auf ihn zu werfen" und so einer tieferen Verantwortung zu entgehen, was mit dem Geist des Christentums in Widerspruch steht. Diese Formalistik und diese Laxheit waren nicht nur eine der Ursachen der Reformation, sondern sie sind auch innerhalb des Protestantismus vorhanden. Wenn größter Wert (Christus) und höchster Unwert (Sünde) draußen sind, so ist die Seele entleert: Es mangelt ihr Tiefstes und Höchstes.

Deshalb ist unsere Gesellschaft so verflacht. Ob man nun von Christentum oder von Werten spricht.

Kürzlich habe ich aus Versehen den Fernseher angemacht, als Florian Silbereisen so unnachahmlich sein Akkordeon spielte. Übrigens finde ich, er kann wirklich recht gut spielen. Aber was für dieses Juwel der deutschen Unterhaltungsindustrie gilt (vorsichtshalber schreibe ich dazu, dass das ironisch gemeint ist) und übrigens gleichermaßen auch mittlerweile für David Garrett und andere:

Wie sehr stellen sich diese Typen selbst in den Mittelpunkt! Wie sehr will das Gesicht Florian Silbereisens und auch die ganze Gestalt die furchtbare Dramatik, den Kampf und die Hochleistung zeigen, die notwendig für dieses Können sind! Wie sehr bäumt sich der Körper auf, zeigt das Gesicht alle möglichen Formen höchster Anspannung - bei David Garrett ist es ähnlich, betrachtet man den immer wieder so unnachahmlich halb geöffneten Mund und das ewig gleiche Lächeln!

Es gibt Künstler von wahrem Format - ich denke an Anne-Sophie Mutter -, bei denen nie etwas anderes als die Musik im Mittelpunkt steht, bei denen der Körper und das Instrument eins sind und der Musik dienen; ja, der Künstler stellt sich in den Dienst seiner Kunst.

In ihrem Spiel zeigt Anne-Sophie Mutter immer auf die Musik.

Wirkliche Künstler kann man heute, vor allem im Bereich der leichtgewichtigen Kunst, mit der Lupe suchen - genau das Gleiche gilt in der Politik für Politiker. Das ist es, was ich an Gauck, an Seehofer, an von der Leyen und all den vielen Werte-Leichtgewichten ablehne: Diese Form der Selbstinszenierung, die noch glauben machen will, genau das Gegenteil zu tun, als ob es nur um die Sache ginge (denken Sie nur daran, wie angestrengt von der Leyen gucken muss, wenn sie so wahnsinnig authentisch wirkt - oder jedenfalls glaubt, so zu wirken.)

Zunehmend fehlen die Menschen, die sich in den Dienst von etwas stellen, das weit über sie hinausweist! Die Alten, zum Beispiel die Griechen, wussten noch darum: Ob sie sich zu Theaterwettkämpfen oder sportlichen trafen: Immer stand ein Altar im Rund.

Wobei ich übrigens finde, dass für Deutschland die Geschichte des Wertebewusstseins nicht so vereinfacht darzustellen ist, wie es Jung oben getan hat - allerdings würde sich dieser hochgebildete Mann sehr wohl differenzierter zu diesem Punkt geäußert haben können, wenn er Schwerpunkt hätte sein sollen.

Ich glaube, dass es in Deutschland so etwas durchaus gab, wie ein inneres Wertebewusstsein - und das nicht zu knapp. Im Land der Dichter und Denker gab es wahrlich Menschen genug, die nicht hohl daherredeten und auch entsprechend wirkten und arbeiteten. Wenn ich von Letzteren spreche, dann denke ich auch an Leute wie Wichern, Bodelschwingh, Wilhelm Löhe (er war maßgeblich daran beteiligt, dass auch Frauen zu Diakoninnen ausgebildet werden konnten), Theodor Fliedner, und andere. Sonst hätte es nicht sein können, dass dieses Land nach dem überdimensionalen Einfall des Dunklen sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder so aus den Ruinen emporarbeitet. Ich bin mir nicht sicher, ob Menschen heute noch angemessen zu schätzen wissen, was die Väter der Bundesrepublik, die Frauen und Männer, die diesen Staat aufgebaut haben, wirklich geleistet haben. Solche Phasen des Aufbaus zeitigen ein bestimmtes, auch notwendiges Wertebewusstsein - das war durchaus da, vielleicht in der Tat des Öfteren hohl, aber nicht so ausgehöhlt, wie es sich in den letzten Jahren zunehmend zeigt.

Die Fähigkeit zu glauben ist die zentrale Voraussetzung, mit den genannten 95 Prozent angemessen umgehen zu können, weil sie nicht glauben machen will und macht, man sei die personifzierte Hundertprozentigkeit.

Wer glaubt, hat gar kein Interesse sich vorzumachen, das Leben sei linear. In Wirklichkeit ist das Leben immer wieder für uns paradox und und undurchschaubar.

Glauben korrespondiert einem Vertrauen, dass die möglicherweise 95 Prozent des Lebens, um die wir nicht wissen - lassen Sie es 75 Prozent sein, dann ist es immer noch genug - uns nicht zum Schaden sein werden.

Viele machen vor diesem Dunkel die Augen zu.

Über den Umgang mit dem, was wir nicht kennen, schreibt C.G. Jung:

Die Maske des Unbewussten ist bekanntlich nicht starr, sondern spiegelt jenes Gesicht, das man ihm zeigt. Feindseligkeit gibt ihm drohende Gestalt, Entgegenkommen mildert seine Züge. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße optische Spiegelung, sondern um eine autonome Antwort (. . .)

In der Tat ist das Unbewusste ein autonomer Gegenspieler, den wir aber beeinflussen können, wie Jung andeutet.

Glauben muss nicht, aber er kann die Fähigkeit vermitteln und die Bereitschaft, das Dunkel anzuschauen. Da dies autonom ist, wie Jung schreibt, verhält es sich denen, die glauben, anders gegenüber als denen, die es negieren.

Irgendwann tappen Letztere in seine Fußangeln und niemand sollte annehmen, dass jemand, der sich leicht durchs Leben bewegt, ein wirklich Privilegierter ist.

Nur wer sich den Gegensätzlichkeiten in sich selbst stellt und den Gegensätzlichkeiten dieser Welt und lernt, mit ihnen angemessen umzugehen, wird Leben gerecht.

Ich vermute, Ricarda Huch hat nicht geahnt, wie wahr ihre Worte noch sehr genau einhundert Jahre nach deren Veröffentlichung wahr sein würden, vielleicht wahrer, als sie zum Zeitpunkt ihres Verfasst-Werdens waren:

Die meisten Berufenen scheitern daran, daß sie nicht kämpfen und leiden wollen. Sie möchten wohl Auserwählte sein, aber, wie Papageno, nicht durch Feuer und Wasser gehen, und gleichen Frauen, die sich nach Kindern sehnen, aber die Qual, sie zu tragen und hervorzubringen, nicht auf sich nehmen mögen. Es gibt Menschen, die dem Leiden ausweichen, und es gibt Menschen, die das Leiden suchen und denen das Leiden ausweicht; wen Gott auserwählt hat, dem zwingt er das Leiden auf. Und zwar zwingt er es ihm auf durch das Mittel, durch welches er überhaupt im Menschen wirkt, nämlich durch das Herz; insofern nun jedem sein Herz selbst angehört, macht jeder sich sein Schicksal selbst

Niemand kommt ohne Kampf mit den dunklen Kräften durch das Leben, es sei denn, er will so leben, wie mittlerweile die Mehrheit.

Glück mag für manchen sein, eine Million bei Günther Jauch zu gewinnen, Glück mag sein, eine Casting-Show zu gewinnen, Glück mag sein, im Lotto zu gewinnen. Im Grunde aber wissen wir, dass all das kein dauerhaftes Glück mit sich bringt. Denn Glück will wirklich errungen sein; in der Tat will es auch erkämpft sein und wahres Glück ist Zu-Fall, weil es dem zufällt, der wirklich glücklich sein kann und es hängt mit der Aussage Jungs im Rahmen jener Schrift zusammen:

Ohne das Erlebnis der Gegensätzlichkeit gibt es keine Erfahrung der Ganzheit und damit auch keinen inneren Zugang zu den heiligen Gestalten. Aus diesem Grund insistiert das Christentum mit Recht auf der Sündhaftigkeit und der Erbsünde in der offenkundigen Absicht, wenigstens von außen jenen Abgrund der Weltgegensätzlichkeit in jedem Einzelnen aufzureißen. Dem einigermaßen erwachten Verstande gegenüber versagt allerdings diese Methode, indem man die Lehre einfach nicht mehr glaubt und überdies für absurd hält.

Das mag die in Schutz nehmen, die wieder und wieder Gott tot lassen sein wollen. Womöglich haben sie die Hohlheit derer wahrgenommen, die Gott und die auch in ihm seit Beginn angelegte Polarität NICHT wahrnehmen wollen, sondern ihn verwenden, um sich’s in der Welt mit Hilfe Gottes kuschelig einzurichten und ihn dazu benutzen, das Dunkle nicht wahrnehmen zu müssen.

Glück aber ist für mich, einen Schritt des Bewusstseins gehen zu dürfen.

Dieses Glück ist für die Ewigkeit. Bewusstsein nimmt uns niemand mehr. Es resultiert aus dem Wissen um eine Gegensätzlichkeit, der in Wirklichkeit eine Ganzheit, eine Einheit zugrundeliegt. Mann und Frau und Licht und Dunkel nehmen wir als getrennt wahr, doch ahnen wir, dass es nicht nur im Außen, sondern auch im Inneren eine Hochzeit geben wird, die auch Licht und Dunkel vereint.

Mancher wird wie ich der Ansicht sein, dass äußere Gestalten - wenn auch nicht 1:1, aber doch tendentiell - unserem Inneren korrespondieren.

Es mag kein Zufall sein, dass der IS die Vielfalt des Lebens zerstören will. Es sind jene Gestalten auch des Inneren, die sich verselbständigt haben, weil zu viele Menschen in ihrem Inneren all die vielen inneren Gestalten entfernt haben, die sie sich nicht erklären können.

Nun haben die Bilderstürmer das Wort und die Waffen und zerstören alles, was ihnen nicht passt.

Es sind im Außen die Kräfte, die im Inneren der Menschen all die heiligen Figuren zum Teufel gejagt haben. Nun hat sie der Teufel in seinen Dienst gestellt. - Das kann er.

Schauen wir an, was die Wirklichkeit uns für eine Auskunft gibt.

Dann verstehen wir vielleicht auch, warum die Gestalten der Heiligen Nacht nicht im Außen bleiben sollten.

Sie warten seit über 2000 Jahren darauf, dass Menschen ihnen in ihrem Inneren Herberge geben.

Geschieht das, verändert sich die Welt.



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Samstag, 5. Dezember 2015

Was henkt denn da im Weihnachts-Tann?

Kurz vor dem zweiten Advent mag das Gedicht von Gottfried Keller noch dahingehen. Noch keine Gefahr, dass die Weihnachtsgans im Hals stecken bleibt.

Der alten Wendel hätte das eh nicht passieren können. Von einer Gans konnte sie nur träumen.

Aber schön der Reihe nach. Zuerst sei einmal gesagt, dass es eigentlich schade ist, dass Gottfried Keller (1819 - 1890) so in der Versenkung  verschwunden ist. Rein körperlich kann man das durchaus nachvollziehen, schließlich war der gute Mann ja kaum mehr als 1,40 Meter groß, liebte allerdings bevorzugt große Frauen - bzw. verliebte sich in sie, mehr war nicht drin (vielleicht wählte er sie ja gerade deshalb aus) - und war im Übrigen ein ziemlicher Holterdipolter, was ihn zwar für die Berliner und Züricher Gesellschaft durchaus attraktiv machte - welche gut-bürgerlichen Kreise umgeben sich nicht gern mit einem etwas aus der Art geschlagenen Bohemien -, aber zumindest Frauen mag er nicht sonderlich geheuer gewesen sein.

Nichtsdestotrotz hat er sie sehr verehrt, noch im schmerzlichen Verlust, wie sein zärtliches Gedicht Schöne Brücke zeigt:.
Schöne Brücke, hast mich oft getragen,
Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen
Und mit dir den Strom ich überschritt.
Und mich dünkte, deine stolzen Bogen
Sind in kühnerm Schwunge mitgezogen,
Und sie fühlten meine Freude mit.
.
Weh der Täuschung, da ich jetzo sehe,
Wenn ich schweren Leids hinübergehe,
Daß der Last kein Joch sich fühlend biegt;
Soll ich einsam in die Berge gehen
Und nach einem schwachen Stege spähen,
Der sich meinem Kummer zitternd fügt?
.
Aber sie, mit anderm Weh und Leiden
Und im Herzen andre Seligkeiten:
Trage leicht die blühende Gestalt!
Schöne Brücke, magst du ewig stehen,
Ewig aber wird es nie geschehen,
Daß ein beßres Weib hinüber wallt
Selbst wenn SIE anderes im Sinn hat als ihn: Möge sie als blühende Gestalt dennoch von der Brücke getragen sein.

Das klingt fast zu selbstlos. - Aber die Zeilen wirken ehrlich.

Ehrlich gesagt, vermisse ich ihn, den Gottfried Keller, seine Präsenz im Bewusstsein der Menschen (in der Schule wird er ja kaum mehr gelesen - vielleicht ist er immer noch zu kritisch-subversiv, zumindest in manchen seiner Werke; die erste Fassung des Grünen Heinrich ist wirklich lesenswert).

Doch zurück zu Weihnachtsgans, Lametta, Tannenreis und Rauschgoldengelchen.

Gottfried Kellers Gedicht Weihnachtsmarkt beginnt:
Welch lustiger Wald um das hohe Schloss
hat sich zusammengefunden,
Ein grünes bewegliches Nadelgehölz,
Von keiner Wurzel gebunden!.
Anstatt der warmen Sonne scheint
Das Rauschgold durch die Wipfel;
Hier backt man Kuchen, dort brät man Wurst,
Das Räuchlein zieht um die Gipfel.
Es ist ein fröhliches Leben im Wald,
Das Volk erfüllet die Räume;
Die nie mit Tränen ein Reis gepflanzt,
Die fällen am frohsten die Bäume
Ein wenig irritierend mag ja sein, dass von einem lustigen Wald im Zusammenhang mit Weihnachten die Rede ist, dass Rauschgold durch die Wipfel scheint, dass das grüne Nadelgehölz gar nicht verwurzelt ist und dass zwei Verse vorkommen, die an tiefsinnige Goethesche Zeilen erinnern:
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Ob unser Gottfried absichtlich eine Goethesche Wendung aufnahm? Gar,  um sich von ihr abzusetzen?

Zwar sind die von ihm angesprochenen Tränen gewiss auch mit Kummer verbunden, aber um die, die sie weinten, geht es gar nicht, sondern um die anderen, die ganz und gar keiner himmlischen Mächte bedürfen, fällen sie doch ganz tränenlos und sehr munter Bäume. - Denen, die weinten und noch weinen, ist wohl eher nicht danach. - Noch aber kommen sie nicht vor.

Es heißt bei Gottfried Keller dann weiter:
Der eine kauft ein bescheidnes Gewächs
Zu überreichen Geschenke,
Der andre einen gewaltigen Strauch,
Drei Nüsse daran zu henken.
Dort feilscht um ein winziges Kieferlein
Ein Weib mit scharfen Waffen;
Der dünne Silberling soll zugleich
Den Baum und die Früchte verschaffen.
Mit rosiger Nase schleppt der Lakai
Die schwere Tanne von hinnen;
Das Zöfchen trägt ein Leiterchen nach,
Zu ersteigen die grünen Zinnen..
Gut, lieber Gottfried, das mit dem "henken" wäre nun nicht nötig gewesen und zu Weihnachten passt eine durch eine Alliteration verbundene Wortkombination wie Weib und Waffen nun auch nicht gerade,  zumal noch scharfen.

Gut, dass da ganz diminutivmäßig ein Zöfchen ein Leiterchen nachtragen darf - Keller weiß doch noch, was sich gehört.

Und immerhin werden die Weihnachtsbaumspitzen zu Zinnen stilisiert.

Bei Matthias Claudius war der Wald schon personifiziert, er stand schwarz und schwieg. Hier ist er es auch, nämlich personifiziert, aber wenigstens singt er:
Und kommt die Nacht, so singt der Wald
Und wiegt sich im Gaslichtscheine;
Bang führt die ärmste Mutter ihr Kind
Vorüber am Zauberhaine.
Er kann´s nicht lassen, der Gottfried, diesen weihnachtszersetzenden Tonfall. Muss das sein, den Wald sich im Gaslichtschein wiegen zu lassen (Alliterationen mag er wirklich, der Keller).

Und muss das sein, den Weihnachtsmarkt als Zauberhain zu bezeichnen?

Haben sich da welche verzaubert wie der Zauberlehrling in Goethes berühmter Ballade?

Oder ist nicht Weihnachten unser aller willkommene Zauberlandschaft?

Jedenfalls war sich Gottfried Keller der Gesetze des aufkommenden Geldmarktes sehr bewusst und hat sie auch wiederholt in seinen Werken angesprochen.

Wie ich darauf komme: Hat die Mutter - sie wird als ärmste bezeichnet - Angst vor der Frage des Kindes: Mama, kaufst Du mir . . .  ?

Übrigens: Wenn ich das Gedicht im Netz gefunden habe, dann wiederholt nur in Ausschnitten und nur ein einziges Mal mit den folgenden, den letzten drei Strophen. Meistens wurden die zitiert, die rührselig weihnachtlich klingen können (obwohl das eigentlich kaum geht, aber wenn man will, geht alles . . .).

Die, die Kellers Zeilen so entstellend verwendet haben, waren wohl auch sehr im Zauberhain aktiv und gewaltig von ihm infiziert  :-(

Denn: respektloser und verunglimpfender kann man kaum mit einem Autor umgehen, als wenn man die letzten drei Strophen weglässt. Ohne sie ist das Vorausgehende nicht wirklich angemessen einzuordnen. Sie lauten:
Einst sah ich einen Weihnachtsbaum:
Im düsteren Bergesbanne
Stand reifbezuckert auf dem Grat
die alte Wettertanne
Und zwischen den Ästen waren schön
Die Sterne aufgegangen;
Am untersten Ast sah man entsetzt
Die alte Wendel hangen.
Hell schien der Mond ihr ins Gesicht,
Das festlich still verkläret;
Weil auf der Welt sie nichts besaß,
Hatt' sie sich selbst bescheret
Man weiß ja, dass Keller in seinem Werk wiederholt starke Anflüge nicht nur eines poetischen Realismus - dem man ihn literaturepochentechnisch zuordnete - sondern eines tatsächlich sozialen Realismus hatte, zu sehr gerät manches Mal sein Personal ins Schlingern angesichts der Anforderungen an eine Bürgerlichkeit, die manche gern überall sehen wollen, aber eher per soap als in Wirklichkeit - das war schon damals so, und Keller wusste darum.

Manches Mal zog er den Vorhang weg. - Wie hier.

Goethe spricht übrigens in der weiteren Folge der oben zitierten Verse  von den himmlischen Mächten weiter:.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst ihr ihn der Pein,
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
Da nun steckt viel karmisches Pathos drin, und das kommt jenen Esoterik-Leutchen zupass, die gern darüber hinwegsehen, dass die Realität auf der Erde gar nicht zu dem prognostizierten Wassermann-Zeitalter-Eiapopeia passen will. Ganz im Gegenteil.

Ich denke, dass da Herr Luzifer mit wenig Aufwand ganze Arbeit leistet, denn anstatt mancher Meditationsrunde wäre es sinnvoller, Sprachkurse für Flüchtlinge anzubieten oder bei einer Tafel mitzuarbeiten. Vielleicht auch einer ärmsten Mutter zu helfen.

Jedenfalls kann man bei so viel aktuellem Helene-Fischer-und-Johannes-B.-Kerner- und-ein Herz-für-Kinder-Lametta schon mal übersehen, dass auch 2015 eine alte Wendel im Weihnachtsbaum hängen wird.

In Ruhe hängen aber lässt Gottfried Keller die alte Wendel im Bannwald der Gebirge seiner Schweizer Heimat. Auch wenn die Atmosphäre durch die Wahl seiner Worte seltsam gebrochen ist. - In den singenden Wäldern der Zauberhaine hätte sie keine ruhige Tanne gefunden.

Apropos ärmste Mutter: Im reichen Bad Kissingen sehe ich immer wieder Leute, die in Abfallbehälter schauen.

Steht nicht schon in der Bibel, wie wertvoll Hoffnung ist?

Ihre Blicke riskieren die Abfalleimer-Leute auch an Weihnachten.

"Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.- Aber die Liebe ist die größte unter ihnen."

Na ja, was soll´s. Armut verklärt sich selbst.

Jetzt wissen wir auch warum  der holde Knabe mit seinem lockigen Haar auf vielen Bildern so strahlend leuchtet:

Er war ja auch arm, und Armut verklärt! 

Hat schon alles seine Richtigkeit. Obwohl doch eigentlich nur die geistig Armen selig sind, laut Bergpredigt.

Zur Not und wenn alle Stricke reißen - nur bitte der letzte nicht - können Arme sich ja selbst bescheren.

So wie die alte Wendel.

Ein fröhliches Weihnachtsfest!