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Donnerstag, 31. Dezember 2015

Und unsern kranken Nachbarn auch!

So lapidar die Schlussworte des liebsten Volksliedes der Deutschen dahingesagt wirken mögen, so in Stein gemeißelt - lapidar leitet sich von lat. „lapis“, Stein, ab - und bedeutsam mögen sie sein, so bewusst gewählt wie zu Roms Zeiten, als man Botschaften und Hinweise per lapis lapidar übermittelte.

1779 wird das Abendlied veröffentlicht und seine Schluss-Strophe lautet:



So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbarn auch!


Blenden wir noch einmal mehr als 300 Jahre weiter zurück:

Die Menschheit macht sich gerade mittels der Geburt eines gewissen Christoph Columbus auf den Weg, Amerika zu entdecken (was bekanntlich so nicht stimmt); eben war Konstantinopel von den Osmanen unter Mehmed II. erobert und das Byzantinische Reich ist Geschichte. Und nur wenige Jahrzehnte ist es her, dass Johannes Hus in Konstanz öffentlich verbrannt worden war, da finden wir in einer Handschrift von 1467 einen Text:



Es ist ein Schnee gefallen,
Und ist es doch nit Zeit:
Man wirft mich mit den Ballen
Der Weg ist mir verschneit.

Mein Haus hat keinen Giebel,
Es ist mir worden alt.
Zerbrochen sind die Riegel,
Mein Stüblein ist mir kalt.

Ach Lieb, laß dich´s erbarmen
Daß ich so elend bin,
Und schleuß mich in dein Arme,
So fährt der Winter dahin.


Gleich zu Beginn vermitteln die Worte des Liedes, dass man auch ausgangs des Mittelalters Metaphern einzusetzen wusste, denn seine Klage macht deutlich, dass Schnee und Ballen für Schicksalhaftes stehen. Nicht nur der Weg, der Lebensweg ist unwegbar und mit dem Fehlen der Giebelwand ist das Dach Wind und Wetter ausgesetzt. Alles Weitere ist eine Frage der Zeit. 

Das Haus allerdings steht für das Haus des Lebens, das ungeschützt ist, und ja, das Innerste ist ausgekühlt. Das dreifach vorkommende ist mir lässt deutlich werden, wie sehr hier jemand auf ganz persönliche Weise fleht und seine Not gesteht. Hilfe von außen ist zwingend, sonst besiegt die Kälte alles Leben, auch das des oder der Sprechenden.

Hie und da werden im Lauf der Zeiten Strophen hinzugetextet und das Lied zu einem Liebeslied gemacht werden. Aber es geht nicht um das Schicksal zweier Liebender, sondern darum, dass hier jemand in höchster Not die LIEBE um Erbarmen und Hilfe bittet, damit das Elend, im Bild des Winters zum Ausdruck gebracht, sich verflüchtigen möge.

Mancher mag über die Weihnachtstage auf das schleuß getroffen sein, wenn er Lobt Gott ihr Christen alle gleich gesungen hat und es dort in der vierten Strophe heißt:



Heut’ schleußt er wieder auf die Tür
zum schönen Paradeis;
der Cherub steht nicht mehr dafür,
Gott sei Lob, Ehr' und Preis.


Doch von all dem ist das lyrische Ich unseres Liedes weit entfernt. Seine Not ist elementar und existentiell und es kann nur hoffen, dass die so angesprochene LIEBE  ein liebendes Herz finden möge, das jener eine Hand zur Verfügung stellt.

Auf diesem Hintergrund wird deutlich, wie bedeutungsvoll die Schlussworte von Matthias Claudius, ja, dass sie womöglich sehr bewusst gewählt gewesen sein mögen - und das in einer gewissen prophetischen Ahnung nicht von ungefähr, begann doch zehn Jahre nach Veröffentlichung des Liedes die französische Revolution, von der sich zunehmend mehr Leute abwenden sollten, weil sie nach anfänglicher Begeisterung erkennen mussten, wie viel Blut floss und wie grausam der Mob - Stichwort Septembermassaker - toben konnte, von den napoleonischen Kriegen und ihrem Elend ganz zu schweigen.

Wendet sich das lyrische Ich an die Liebe, so wendet sich Mattias Claudius an Gott:



Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbar auch!


Ja, darum dürfen wir durchaus bitten und viele Menschen in Nordengland werden es im Moment tun, zu bitten, einfach nur zu bitten, viele Menschen in Syrien, in der Ukraine, in Afghanistan, in Kurdistan - wo auch immer.


Wer wirklich in Not ist, lernt zu bitten.
Anfang und Ende sind besondere Räumlichkeiten in einem Text, einem Gedicht. Und wenn in einem solchen von dem Mond, von Gott und den Sternen die Rede war und doch das letzte Wort dem Nachbarn gewidmet wird, dann ist jener auch wirklich gemeint, auch der Nachbar in mir, der über lange Zeiten nur ein Schattendasein fristet; irgendwann darf auch er uns berühren.

Unser Nachteil ist es nicht.

Im Gegensatz zu unserem Bundespräsidenten hatte das lyrische Ich der Handschrift noch das innere Vermögen, die Liebe anzusprechen.
Gauck sprach in seiner Weihnachtsansprache von Menschenfreundlichkeit.

Auffallend ist ja, dass Ex-Pfarrer Gauck immer nur zutiefst verschwurbelt den christlichen Glauben einbezieht. Angela Merkel, die sonst weit weniger als Gauck heuchelt, wünscht am Ende ihrer Neujahrsansprachen in der Regel Gottes Segen, ein Umstand, der vielleicht eher ihrem Elternhaus als ihrer Einstellung und politischen Praxis geschuldet ist.

Das aber macht uns auf einen Umstand aufmerksam, der sowohl das Abendlied von Matthias Claudius als auch das Lied der Handschrift so aktuell und zugleich brisant sein lässt:
Die Werte des einstmals christlichen Abendlandes, von denen immer mal wieder gesprochen wird, die gibt es nicht mehr.
Wir sollten das endlich offen eingestehen.


Das macht gerade Gaucks indifferentes Gesäusel deutlich. Immerhin taucht bei ihm noch eine nachchristliche Vokabel wie Weihnachtsgeschehen auf, mehr verbietet wohl die Rücksicht auf muslimische Brüder und Schwestern (die sicherlich ganz und gar nichts dagegen hätten, Genaueres zu hören). 
Jedenfalls bleibt es für unseren werten Bundespräsidenten auf dem Hintergrund seines kulturellen Devotismus bei angesprochenen Buchstabenhülsen.

Und das ist auch gut so, mehr wäre nur noch mehr geheuchelt.

Was wir als Werte bezeichnen, sind auf der Basis ökonomischer Kosten-Nutzenrechungen Eigenschaften, die die notwendige Schmiere abgeben, damit unsere Wirtschaft ohne großes Gequietsche läuft, unbezahlt und deshalb geduldet. In jenem Sinne, in dem sie einst berufen worden waren, als unbezahlbare Elexiere unseres Lebens, existieren sie schon lange nicht mehr.

Werte also sind das, was in diesem Rahmen und damit das öffentliche Leben funktioniert bereitwillig und unbezahlt geduldet wird. In dem Sinn jedoch, wie wir sie einst berufen haben, existieren sie schon seit Jahren nicht mehr.

Wir sollten sie endlich auch offiziell ad acta legen und niemand sollte sich mehr auf sie berufen. Ich meine, selbst die Kirchen tun es ja schon lange höchst selten, weil sie wohl spüren, dass der Klang diesbezüglicher Worte merkwürdig hohl scheppert (was für mich mit der Hohlheit des Christentums, wie es C.G. Jung ansprach, zusammenhängt).

Umso erfreulicher ist es für mich, dass man das für das offizielle und veramtete Deutschland so formulieren kann, nicht aber für doch recht viele seiner Bürger.

Denn jene Tugend, jener Wert, den ein Mann ausgibt, der zu den ganz wenigen Würdenträgern gehört, die ich authentisch finde, der Papst nämlich, gerade auch dann, wenn er von Barmherzigkeit spricht, die zeigt sich in Deutschland und hat sich 2015 auf eine Weise gezeigt, die mich dieses Land wieder aufs Neue hat lieben lassen; dieses Mal weniger wegen seiner wunderschönen Landschaften, die ich so mag, sondern wegen seiner Menschen, die ihre Hand der Liebe zur Verfügung gestellt haben und den, den das Schicksal zu ihrem Nachbarn gemacht hat, als Nachbarn und Nächsten annahmen.

Man mag es Schicksal oder Gott nennen, aber es gibt wohl jene Instanz, die den Menschen ihr Schicksal zuweist, das sie tragen können. Insofern ist es eine schicksalhafte Fügung, dass Deutschland jener so großen Herausforderung 2015 konfrontiert wurde.

Ich bin so froh, dass es sie angenommen hat und jene Werte lebt, die verloren schienen und wünsche, dass es künftige Herausforderungen meistern möge.
Daran wird es wachsen und jene Staaten, die nicht ihre Hand absichtsvoll der Liebe liehen, werden dies noch bedauern.



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