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Donnerstag, 24. Dezember 2015

Wie ist die Welt so stille!

Vor allem die Stille führt uns zu der Erkenntnis, dass die Welt ein Buch ist, in dem wir lesen, das wir aber zugleich selbst schreiben.

In diesem Buch lesen wir auch von uns, und indem wir zugleich aufschreiben, dass wir das tun, schaffen wir uns selbst, ein unendlicher Prozess, es sei denn, wir finden einen Namen für all das.

Diesen Namen aber vermag uns nicht unser Verstand zu geben. Er kommt von tief innen und von weit oben zugleich.

Michael Ende und seiner Unendlichen Geschichte verdanke ich obigen Gedanken; er und Matthias Claudius und Joseph von Eichendorff waren und sind Brüder im Geiste.

Bezeichnend, dass Matthias Claudius' Blick sich in seinem Abendlied, aus dem die Worte der Überschrift ja stammen, zuerst nach oben richtet, zum Himmel; doch im Anschluss geht sein Blick auch in den folgenden Strophen 
immer wieder zur Erde, so, als wolle er die Weisheit des unendlichen Alls, der Welt, wie er schreibt, in die stille Kammer holen, die bestenfalls in uns ist.

Ganz anders ist es im Weihnachtsgedicht des Joseph von Eichendorff, in dessen Lyrik immer wieder die Sehnsucht nach der Heimat zu spüren ist, dem verlorenen Schlossgut der Eltern auf den Oderterrassen, ein Verlust, der vom Schicksal so vorgesehen gewesen sein mag, damit die Sehnsucht als spirituelle Kraft in seinem Werk so überzeugend Ausdruck finden konnte.


In seinen Strophen ist der Blick des lyrischen Ichs zunächst auf die menschlich reale Ebene gerichtet, die er durchaus mit Distanz, aber zugleich empfindsam einfühlsamem und sinnendem Blick wahr- und aufnimmt.


Markt und Strassen steh'n verlassen
still erleuchtet jedes Haus
sinnend geh ich durch die Gassen
alles sieht so festlich aus.
An den Fenstern haben Frauen
buntes Spielzeug fromm geschmückt
tausend Kindlein steh'n und schauen
sind so wunderstill beglückt.

Still wird zu wunderstill und Frieden und Glück sind greifbar nahe; es ist alles geschmückt, fromm geschmückt. In dieser Weihnachtsnacht ist alles fernab jeglicher Profanität. Kein Haus ist dunkel, und wie es im Traum oft der Fall ist, mögen die still erleuchteten Häuser für die Seelen der Menschen stehen und die tausend Kindlein für alle, auch die inneren Kindlein der Erwachsenen, die angesichts der Stillen Nacht wieder ihr kindliches Staunen und ihre Demut vor dem großen Geschehen entdecken wollen.

Und nun weitet sich das Geschehen auch bei Eichendorff, denn was sich im Außen abspielt, ereignet sich auch im Inneren:


Und ich wandre aus den Mauern
bis hinaus ins freie Feld
hehres Glänzen, heil'ges Schauen
wie so weit und still die Welt.

Dieses Empfinden-Können, das die Seele des lyrischen Ichs zu zeigen vermag, lässt alle Mauern hinter sich. Sie ist frei für das Glänzen und Schauen, für die Weite und Stille der Welt.

Im ganzen Gedicht ist durch die fortwährenden Zeilensprünge eine Vorwärtsbewegung, begleitet durch die Alliterationen wie hehr und heilig und weit und Welt, die durch den Buchstabenklang alles ins Innere tragen, verstärkt durch die Zwillingsformen wie hehr und heilig, weit und still, steh´n und schauen.

Das lässt sogar die Sterne lebendig werden und die Verse in die Schluss-Strophe münden:


Sterne hoch die Kreise schlingen
aus des Schnee's Einsamkeit
steigt's wie wunderbares Singen
Oh Du gnadenreiche Zeit!

Warum ist die Stille so wichtig?

Wenn die Seele zur Ruhe kommt, ist es, wie wenn der See still und klar ruht, wie es in Leise rieselt der Schnee heißt. Und wenn der See still und klar ruht, dann kann sich der Himmel im Wasser, das ja immer ein Symbol der Seele ist, spiegeln. In den aufgewühlten Wassern ist die Welt laut, ihre Lichter schreien, ihre Kraft ist Gewalt, ihr Glanz ist Fassade und Politur.


Wir erinnern uns, dass Jesus den tosenden Sturm des Sees Genezareth zur Ruhe brachte und eine Stille eintrat. Wie so oft ist auch hier das Geschehen tief symbolisch und reicht bis in die Weihnachtsnacht. Ihre Stille.

Für die Menschen früherer Zeiten war es ein notwendiger Brauch an Sylvester, dass man die bösen Geister vertreibe. Doch wissen wir, dass das ständige Lärmen, das unsere Kultur auszeichnet, längst vor allem die guten vertreibt.

Eigentlich aber ist in unserer Kultur der Wert der Stille tief verankert, bis hinein in den 23. Psalm, den Martin Luther ruhig genauer hätte übersetzen können, wenn es dort eigentlich heißt:


Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum stillen Wasser.

David, judäisch-israelischer König und Verfasser dieses Psalms, wusste sehr wohl, dass gerade das stille Wasser Tiefe gibt und Kraft.

Die Stille der Nacht, die Stille Nacht, die Heilige Nacht, will in die Tiefe führen des eigenen Inneren, wo die Geburt jenes Lichts stattfinden kann, das unser Leben gestalten und unsere Kultur ihrer Bestimmung zuführen will.

Ich möchte alle Leser weihnachtlich grüßen, wie schon im letzten Post mit Worten des von mir so geschätzten Friedrich von Bodelschwingh, der allen seelisch Kranken und Behinderten eine Heim- und Heilstätte gab:



Nach Hause kommen, das ist es, 
was das Kind von Bethlehem allen schenken will, 
die weinen, wachen und wandern auf dieser Erde.



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