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Sonntag, 7. Februar 2016

Ihr, von denen das Sein / leise sein großes Gesicht wegwandte! - Über Flüchtlinge im Niemandsland des Lebens.

Als ich obigen Beginn des Rilke-Gedichtes, das eigentlich Gebet für die Irren und Sträflinge überschrieben ist, heute las, kamen mir die Fernsehbilder zehntausender aus Aleppo flüchtender syrischer Frauen, Kinder und Männer in den Sinn, die im Niemandsland zwischen der Türkei und Syrien sind, Menschheitsreste, die keiner will, aus- und herausgebombt, warum auch immer. - Spielt es noch eine Rolle, von wem die Bomben waren?

Betend wendet sich das lyrische Ich den Irren, Sträflingen und Flüchtlingen zu, die, nichts verbrochen habend, zu den irren Irrenden und Bestraften dieser Erde gehören, ein lyrisches Ich, das sich selbst seines Seins gar nicht sicher ist, das nur weiß, dass es da Menschen gibt, die erdrückend viel Zeit haben.
Rilke konnte nicht ahnen, als er sein Gedicht vor wenig mehr als 100 Jahre schrieb, dass es mehrfach schrecklich aktuell sein würde. Es ist gar nicht in dem uns bekannten Ton Rilkes verfasst, der doch Gott und Engel so eindrücklich beschwören konnte oder einen Panther, einen Apoll oder eine Stadt namens Venedig als eine Kurtisane vor unsere Augen zu zaubern vermochte, unnachahmlich.

Hier schreibt er Zeilen, beginnend in prosaischem Ton, gerade, dass sie noch durch Reime gehalten sind. Die ersten beiden Strophen lauten:


Ihr, von denen das Sein
leise sein großes Gesicht
wegwandte: ein
vielleicht Seiender spricht

draußen in der Freiheit
langsam bei Nacht ein Gebet:
dass euch die Zeit vergeht;
denn ihr habt Zeit.



Man glaubt zu spüren, dass der Verfasser sich selbst im Gefängnis wähnt, in der Irrenanstalt, im Niemandsland, spricht er doch von "draußen in der Freiheit", als ob er selbst innen sei, und es ist, als ob er von einer, seiner Freiheit mit einer merkwürdigen Distanz spräche.

Welch seltsames Gebet eines vielleicht Seienden, ein Gebet, von dem man ahnt, dass er nie glaubte, es einmal zu beten.
Ein Gebet um das Vergehen der Zeit. Unwillkürlich denken wir daran, dass es viele nur dreißig Jahre später beteten eingedenk ihrer Lieben, die an einem viel schlimmeren Ort als einem Gefängnis waren, Leid ertragend, angesichts dessen selbst das übergroße Hiobs seinen einstmals so großen Schrecken verlor. 

Und auch heute leiden Tausende unter Heimatverlust und dem Verlust ihrer Lieben und müssen wie Hiob Reden von Freunden ertragen und solchen, die es gar nicht sein wollen, nicht können.

Inmitten des Gedichtes spricht der vielleicht Seiende von jenem Sein, das sein Gesicht wegwandte, gewiss aber nicht vor Verachtung, sonst gedächte dieses Sein jetzt nicht der Irren, Sträflinge und Flüchtlinge:


Wenn es euch jetzt gedenkt,
greift euch zärtlich durchs Haar:
alles ist weggeschenkt,
alles was war.



Da wirkt Rilkesche Sprachkunst, wirkt durch das anaphorische alles, die W-Alliterationen, die Eindrücklichkeit der Vokale, vor allem den Klang des a in uns hinein.
Durchs Haar greifen: Kann es sein, dass in dieser Bewegung mehr Hoffnung ist, als wenn sie sich ins Haar griffen?

Seid ihr wenigstens zärtlich zueinander! Das ist, was euch noch bleibt!
Wahr ist doch: alles war.

Es bleibt in der vorletzten Strophe die Hoffnung des lyrischen Ichs, dass Ihr, auch wenn das Herz Jahr um Jahr verjährt, stille zu bleiben vermöget. Und dass keine Mutter erfahre, dass es für ihre Kinder dieses Niemandsland des Lebens gebe.

Schlussendlich wird Rilke zu einem Erzähler, aus der Vergangenheit schreibend und einen Blick durch die Zweige eines Baumes auf den Mond werfend, durch Zweige, deren Entzwei-Sein klagt, fast schreit.
Denn der Mond ist so alleine wie jene, denen das Sein sich nicht mehr zuwendet, von denen es sich abwandte.
Verächtlich?
Gewiss nicht.
Eher voller Schmerz.
So muten die Worte des vielleicht Seienden an wie eine große Klage, fast eine Totenklage, angestimmt für jene, die sich selbst eine Stimme zu haben nahmen, und für jene, denen das unbegreifliche Leben eine Stimme zu haben nahm.

Hier die bewegenden fünf Strophen, Zeile für Zeile:


Ihr, von denen das Sein
leise sein großes Gesicht
wegwandte: ein
vielleicht Seiender spricht


draußen in der Freiheit
langsam bei Nacht ein Gebet
dass euch die Zeit vergeht,
denn ihr habt Zeit.


Wenn es euch jetzt gedenkt,
greift euch zärtlich durchs Haar:
alles ist weggeschenkt,
alles was war.


O dass ihr stille bliebt,
wenn euch das Herz verjährt;
dass keine Mutter erfährt,
dass es das gibt.


Oben hob sich der Mond,
wo sich die Zweige Centzwein,
und, wie von euch bewohnt,
bleibt er allein.


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