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Sonntag, 29. Mai 2016

Wie eine Frau zwölf Möchtegern-Heilige düpiert!

Vielleicht ist das etwas zu provokativ formuliert und vielleicht sollte man mehr Verständnis für die Jünger Jesu haben, die angesichts der Tatsache, dass da eine Frau kostbares Salböl auf das Haupt von Jesus ausgießt, protestieren und dafür plädieren, doch eher das Öl zu verkaufen und das Geld den Armen zu geben - nachzulesen in Matthäus 26.

Wer weiß, vielleicht aber haben sie auch klammheimlich gespürt, dass es jedenfalls nicht sie waren, die auf die Idee gekommen waren, ihrem Meister solch eine Ehrung zuteil werden lassen.

Jesus jedenfalls hebt heraus, wie intuitiv diese Frau war, wie intuitiv handelnd und vorausschauend, vorausschauend wissend, wenn er sagt:


Dass sie das Öl auf meinen Leib gegossen hat, das hat sie für mein Begräbnis getan.

Offensichtlich wusste die Frau, wenn auch vielleicht unbewusst, sehr genau, was sie tat. Die Jünger aber zeigten mit ihrem Hinweis zu den Armen, wie wenig ihnen von solch vorausschauenden Wissen zuteil war, obwohl sie doch über Wochen, ja Monate mit ihrem Meister zusammen gewesen waren.

Ja, fast kommt einem ihre Empfehlung, das Geld doch lieber den Armen zu geben, etwas bigott vor.

Vielleicht wollten sie gar nur ablenken von der Tatsache, wie weit entfernt sie von solchem Verhalten waren.

Jesus aber stellt diese Frau auf eine Weise heraus, wie es mehr kaum geht:


Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

Wenn man bedenkt, dass es eine Frau, nämlich Maria aus Magdala sein wird, die zu Jesu Grab laufen wird, während obige Jünger angstvoll vor den Römern in Jerusalem sitzen werden - und dass, obwohl ihnen doch Jesus seine Auferstehung angekündigt hatte; wenn man bedenkt, dass Jesus als Erstes einer Frau - eben jener Maria Magdalena - sich als der Auferstandene zeigen wird, dann dürfte ziemlich klar sein, dass das Neue Testament dem Männlichen keine Priorität gegenüber dem Weiblichen einräumt - im Gegenteil zeigt es höchsten Respekt Frauen gegenüber, dieser oben erwähnten Frau, die Jesus salbt, und Maria aus Magdala, der höchste Ehre zuteil wurde - und das nicht unberechtigt, angesichts ihres Mutes und ihres großen Herzens, das sie zum Grab ihres toten Geliebten zog, der ihr dann gleich so lebendig gegenüberstehen sollte, so dass sie ihn zunächst nur für den Gärtner zu halten vermochte!


Montag, 23. Mai 2016

Die Liebe ist des Menschen Licht und seine Finsternis, deren Ende er nicht absieht.

C.G. Jung über die Liebe gegen Ende seiner Autobiographie Erinnerungen, Träume, Gedanken:

Meine ärztliche Erfahrung sowohl wie mein eigenes Leben haben mir unaufhörlich die Frage der Liebe vorgelegt, und ich vermochte es nie, eine gültige Antwort darauf zu geben (...) Es geht hier um Größtes und Kleinstes, Fernstes und Nahestes, Höchstes und Tiefstes, und nie kann das eine ohne das andere gesagt werden. Keine Sprache ist dieser Paradoxie gewachsen. Was immer man sagen kann, kein Wort drückt das Ganze aus. Von Teilaspekten zu sprechen, ist immer zuviel oder zuwenig, wo doch nur das Ganze sinngemäß ist. Die Liebe »trägt alles« und »duldet alles« ❴I.Cor. XIII,7❵. Dieser Wortlaut sagt alles. Man könnte ihm nichts beifügen. Wir sind nämlich im tiefsten Verstande die Opfer oder die Mittel und Instrumente der kosmogenen »Liebe«. Ich setze dieses Wort in Anführungszeichen, um anzudeuten, daß ich damit nicht bloß ein Begehren, Vorziehen, Begünstigen, Wünschen oder ähnliches meine, sondern ein dem Einzelwesen überlegenes Ganzes, Einiges und Ungeteiltes. Der Mensch als Teil begreift das Ganze nicht. Er ist ihm unterlegen. Er mag Ja sagen oder sich empören; immer aber ist er darin befangen und eingeschlossen. Immer hängt er davon ab und ist davon begründet. Die Liebe ist sein Licht und seine Finsternis, deren Ende er nicht absieht. »Die Liebe höret nimmer auf«, auch wenn er  mit »Engelszungen« redete oder mit wissenschaftlicher Akribie das Leben der Zelle bis zum untersten Grunde verfolgte. Er kann die Liebe mit allen Namen belegen, die ihm zu Gebote stehen, er wird sich nur in endlosen Selbsttäuschungen ergehen. Wenn er ein Gran Weisheit besitzt, so wird er die Waffen strecken und ignotum per ignotius* benennen, nämlich mit dem Gottesnamen. Das ist ein Eingeständnis seiner Unterlegenheit, Unvollständigkeit und Abhängigkeit, zugleich aber auch ein Zeugnis für die Freiheit seiner Wahl zwischen Wahrheit und Irrtum.

* ignotum per ignotius bedeutet: das eine wie das andere ist uns unbekannt (ignotus) - will meinen: Demütig nur können wir uns zu der Wahrheit unseres letztendlichen Nicht-Wissens bekennen.

** mehr von C.G. Jung: Polarität, Trintität, Quaterntät: Wer zu heilig sein will, verkennt vielleicht, dass Böses auch sein Gutes haben könnte.

Dienstag, 17. Mai 2016

Gerade noch höchster Geistesadel, wenig später Satan! - Wie nah doch Himmel und Hölle in unseren Seelen beieinander sind!

Klar, zwei Seelen wohnen, ach, in unserer Brust! – Faust hat es gewusst und leider dennoch nicht gecheckt, dass jener Mephistopheles, dem er im Außen begegnet, Teil seiner Seele ist. Sonst hätte er sich vielleicht nicht auf der Walpurgisnacht mit jungen geilen Hexen herumgetrieben, während seine Margarete sich in höchster seelischer Not befand, nicht wissend, wie sie mit dem Kind in ihrem Leib, das sie ihrer Liebe zu eben diesem Faust verdankte, umgehen solle. Jener ließ sie mutterseelenallein. Schließlich tötete sie es.
Als jener Doktor endlich mittels einer Vision mitten im walpurgisnächtlichen Treiben wahrnahm, dass sich Gretchen buchstäblich in der Hölle befand, ließ er sich zwar durch Mephistopheles zu ihr in ihren Kerker bringen - aber es war viel zu spät!
Gretchen mag in jener Kerkerszene, die Faust I abschließt, gespürt haben, wie kalt ein Herz ist, das im Griff des Mephistopheles ist. Worte hin oder her.

Petrus hatte höchste Erkenntnis, und die wohl nicht nur im Kopf (wie es wohl bei Faust gewesen sein mag), sondern wohl auch im Herzen:

Als Jesus seine Jünger fragte, ob sie wüssten, wer er sei, vermuteten jene zunächst, er sei der wiedergeborene Elia oder der wiedergeborene Jeremia oder ein anderer der alttestamentarischen Propheten. Jesus stutzte sie übrigens nicht zurecht nach dem Motto: Was soll der Quatsch mit der Reinkarnation. Nein, die Stelle weist darauf hin, dass der Gedanke an sich für Jesus durchaus denkbar ist, eine der Belege für mich, warum dem christlichen Glauben Reinkarnation durchaus inhärent ist (die katholische Kirche hat bekanntlich jene, die an Seelenwanderung und damit auch an Reinkarnation fürderhin glauben, auf dem Konzil zu Konstantinopel 553 verflucht - seitdem glauben brav ganz viele Leute, vor allem Katholiken, aber auch Protestanten an ein einziges Leben).

Aber Jesus möchte mit seiner Frage, wer er sei, seinen Jüngern etwas ganz anderes so richtig bewusst werden lassen und er vermag es über die Worte, die Petrus ausspricht:
Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.
Jesu folgende Worte sind für Petrus wie ein seelisch-geistger Ritterschlag; sein Meister sagt nämlich:
Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein. (Matth. 16,18f)
Mehr geht kaum: Petrus wird die Schlüssel des Königreiches der Himmel erhalten, wie es wörtlich heißt und er wird in einem Ausmaß ermächtigt, wie es kaum mehr sein kann.

Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass ich so sehr bedaure, dass Luther des Öfteren von nur einem Himmel gesprochen und ihn trotz anderer sprachlicher Gestaltung des Originals im Singular erwähnt hat, obwohl auch an dieser Stellen von dem Königreich der Himmel im Original die Rede ist. Für das Bewusstsein der Menschen wäre es so wichtig zu wissen, dass es in Wirklichkeit heißt:
Vater unser, der Du bist in den Himmeln . . .
So steht es nämlich im Matthäus-Evangelium.
Und auch an der oben zitierten Stelle ist von mehreren Himmeln die Rede.
Schade. Jesus wollte das Wissen um mehrere Himmel weitergeben. Vielleicht musste Luther hier den Satan geben.

Zurück zu Petrus: Nur wenige Tage später wird es gewesen sein, da brandmarkt Jesus jenen als Satan.
Für Petrus mag das ein Absturz wie für Luzifer gewesen sein.
Eben noch in höchster Höhe, von Gott ausersehen, sein Wort weiterzugeben - welche Ehre, welches Vertrauen!
Und dann tiefster Fall. Bis auf Satansebene.

Wie war es dazu gekommen?
Jesus hatte davon gesprochen, dass er nach Jerusalem gehen werde und viel werde leiden müssen, letztendlich natürlich, um seine Mission zu erfüllen.
Worauf Petrus nichts anderes einfiel, als Jesus ziemlich schroff in die Parade zu fahren, indem er ihn beiseite nahm und anfuhr:
Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!
Man könnte Petrus zugute halten, er habe es doch nur gut gemeint; in Wirklichkeit hat er schlicht und ergreifend das aus christlicher Sicht größte und wichtigste Menschheitsereignis torpediert.
Wenn auch nur mit Worten.
Die Reaktion Jesu geschieht unmittelbar und eindeutig. Er wendet sich von Petrus ab, sagend:
Geh weg von mir, Satan!
Brutal. 
So kommt es bei uns, bei mir jedenfalls an.
In Wirklichkeit als Antwort notwendig, um die Energie, die Petrus wachgerufen hatte, zu eliminieren!
Es hat nicht den Falschen getroffen, schließlich sollte Petrus Jesus auch in der Nacht von dessen Tod verleugnen, um sein eigenes Leben zu retten, wobei noch dazu das Ohr eines römischen Soldaten dran glauben musste, das er jenem abschlug, weil dieser die Wahrheit zu ermitteln versucht hatte, dass Petrus doch zu der Schar des eben gekreuzigten vermeintlichen Schwerverbrechers gehöre.

Kaum zu glauben, wie in einer Seele in unmittelbarer zeitlicher Nähe höchste Höhe und tiefste Tiefe, Himmel und Hölle beieinanderliegen. Ein Wimpernschlag, gemessen an dem, was wir Zeit nennen (und allein unsere Erde ist ja über 4 Milliarden Jahre alt).

Mich tröstet das heute sehr.
Dass das auch Petrus widerfuhr.
Offensichtlich kann man - seit Luzifer wissen wir das - wie ein Blitz vom Himmel fahren.
Aber für immer in den Himmel zurück gibt es keine Blitzreise.
Sondern immer wieder Himmel und Hölle.
Nah beieinander.

Samstag, 7. Mai 2016

"Ich sehne oft nach einer Mutter mich!" - Gedanken zu unseren Muttertagen.

Wie sehr ein Mutterbild zerrissen sein kann, zeigen obige Worte auf dem Hintergrund jener, die einer unserer größten Dichter in Bezug auf seine Mutter, die diese Worte nach dem Tod ihres Sohnes gelesen haben wird, ebenfalls äußerte: "Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag / und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag."

Rainer Maria Rilke hat in seinen Ersten Gedichten immer wieder manchmal fast zusammenhanglos wirkende Gedanken - oft sind es nur wenige Zeilen - in Reimen auf Papier geworfen, die einen dennoch nicht so schnell wieder freigeben, beispielsweise jene zwei folgenden knappen Strophen, die sich auf ein Gretchenschicksal zu beziehen scheinen, jener jungen Mutter also, die so schmählich von Faust im Stich gelassen worden war.
Wie zum Trost vermag der damals so junge Dichter, der immer wieder Zeit seines Lebens ein Seher war, dennoch in seinen Zeilen dem werdenden Muttersein ein Glück abzugewinnen, wissend, dass jedes im Mutterleib heranwachsende Kind - was kann uns auf Erden Wertvolleres widerfahren - sie, die Mutter, mit der Ewigkeit verbindet:

 
Und reden sie dir jetzt von Schande,
da Schmerz und Sorge dich durchirrt, -
oh, lächle Weib! Du stehst am Rande
des Wunders, das dich weihen wird.

Fühlst du in dir das neue Schwellen,
und Leib und Seele wird dir weit -
oh, bete, Weib! Das sind die Wellen
der Ewigkeit.

 
Diese Wellen der Ewigkeit haben auch Rilke Zeit seines Lebens berührt, vermittelt vielleicht auch durch die - wenn auch bigotte - Religiosität seiner Mutter, mittels deren er sicherlich dennoch viel Biblisch-Religiöses und für sein Leben und Schaffen Wertvolles lernte, die aber seine Seele vielleicht auch ausgesucht haben mag, sich von ihr abzugrenzen, um dann nur um so weiter ausgreifend nach dem Göttlichen in sich suchen zu können. Seine vielen Gedichte, die um Engel und Gott kreisen, bezeugen dies.

Rilkes Mutterbild war mehr als zerrissen. Sein 1915 verfasstes Gedicht bezeugt eine der beiden möglichen Seiten und tut noch beim Lesen weh:

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt,
und stand schon wie ein kleines Haus, um das sich groß der Tag bewegt,
sogar allein.
Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.

Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut.
Sie sieht es nicht, dass einer baut.
Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein.
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.

Die Vögel fliegen leichter um mich her.
Die fremden Hunde wissen: das ist der.
Nur einzig meine Mutter kennt es nicht,
mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind.
Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind.
Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag
und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag.

 
Sophie Rilke wird diese Sohnes-Worte vor ihrem Tod gelesen haben, denn sie überlebte ihn um fast fünf Jahre. Vielleicht mögen seine Verse heilsam für ihre Seele gewesen sein, die in ihrem Leben wohl nicht glücklich war, trennte sie sich doch nach kaum 11 Jahren Ehe von einem Mann, der ihren Ansprüchen nicht genügte, versah er doch nur eine bescheidene Beamtenstelle bei der Turnau-Kralup-Prager Eisenbahn, nachdem seine Versuche, mittels einer militärischen Laufbahn, im Rahmen deren er sogar für kurze Zeit Kommandant des Kastells von Brescia  gewesen war, gesellschaftlich zu arrivieren, gescheitert waren, weil er wegen eines Halsleidens seinen Abschied nehmen musste. 
Seine Frau, aufgewachsen in einer angesehenen Prager Kaufmannsfamilie - ihr Vater war gar Kaiserlicher Rat - trennte sich jedenfalls von ihm und zog nach Wien, um dem kaiserlichen Hofe nahe zu sein. Wer weiß, ob damit nicht auch zusammenhängt, dass ihr Sohn späterhin Kontakte zu den vornehmsten Adelsgeschlechtern Europas pflegte, gewiss nicht zu deren seelisch-geistigem Nachteil. 
Obwohl so oft von der Mutter enttäuscht, stand er allem Weiblichen - fast möchte man sagen - zu offen gegenüber, zumal auch seine Ehe scheiterte, er dennoch aber Zeit seines Lebens seiner Ehegattin verbunden blieb, vor allem aber jener Frau, die wie eine Sonne ihr Umfeld überstrahlte - zu dem auch Nietzsche gehörte: Lou Andreas-Salomé.
Mit der Bedeutung des Mütterlichen hat Rilke sich Zeit seines Lebens auseinandergesetzt, und es mag uns darauf verweisen, wie wichtig es ist zu erkennen, wie sehr auch in dem Mütterlichen sich zwei Seiten des Weiblichen spiegeln, die auch in unserer Seele enthalten sind.
Eine, die eher dunkle Seite, dokumentiert sich in einem Brief Rilkes, im April 1904 aus Rom an Lou geschrieben, in dem es heißt:

Meine Mutter kam nach Rom und ist noch hier. Ich sehe sie nur selten, aber - Du weißt es - jede Begegnung mit ihr ist eine Art Rückfall (...) Wenn ich diese verlorene, unwirkliche, mit nichts zusammenhängende Frau, die nicht alt werden kann, sehen muss, dann fühle ich, wie ich schon als Kind von ihr fortgestrebt habe, und fürchte tief in mir, dass ich, nach Jahren und Jahren Laufens und Gehens, immer noch nicht fern genug von ihr bin, dass ich innerlich irgendwo noch Bewegungen habe, die die andere Hälfte ihrer verkümmerten Gebärden sind, Stücke von Erinnerungen, die sie zerschlagen in sich herumträgt; dann graut mir vor ihrer zerstreuten Frömmigkeit, vor ihrem eigensinnigen Glauben, vor allem diesem Verzerrten und Entstellten, daran sie sich gehängt hat, selber leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich. Und dass ich doch ihr Kind bin (...)

Zuallermeist, auch bei aller Enttäuschung, trägt ein Kind die Liebe zu Vater und Mutter in sich, weil sie, ohne dass es das weiß, für eine archetypische, weit größere und uranfängliche steht; deshalb möchte sie doch gelebt und alle Tage möchten so gerne Vatertage und Muttertage sein. Man spürt es jenen Worten an, die Rilke seinen Malte in dessen Aufzeichnungen formulieren lässt - und ich denke, da wird auch Autobiographisches mitgeschwungen haben:

Maman kam nie in der Nacht -, oder doch, einmal kam sie. Ich hatte geschrien und geschrien, und Mademoiselle war gekommen und Sieversen, die Haushälterin, und Georg, der Kutscher; aber das hatte nichts genutzt. Und da hatten sie endlich den Wagen nach den Eltern geschickt, die auf einem großen Balle waren, ich glaube, beim Kronprinzen. Und auf einmal hörte ich ihn hereinfahren in den Hof, und ich wurde still, saß und sah nach der Tür. Und da rauschte es ein wenig in den anderen Zimmern, und Maman kam herein in der großen Hofrobe, die sie gar nicht in acht nahm, und lief beinah und ließ ihren weißen Pelz hinter sich fallen und nahm mich in die bloßen Arme. Und ich befühlte, erstaunt und entzückt wie nie, ihr Haar und ihr kleines gepflegtes Gesicht und die kalten Steine an ihren Ohren und die Seite am Rand ihrer Schultern, die nach Blumen dufteten. Und wir blieben so und weinten zärtlich und küßten uns, bis wir fühlten, daß der Vater da war und daß wir uns trennen mußten. (...) "Was für ein Unsinn uns zu rufen", sagte er ins Zimmer hinein, ohne mich anzusehen (...)

Ja gewiss, es gibt Kinder, die nie wirklich von ihren Eltern angeschaut worden sind. Aber die Sehnsucht ist dennoch da und unser Dichter hat es so formuliert:

 
Ich sehne oft nach einer Mutter mich,
nach einer stillen Frau mit weißen Scheiteln.
In ihrer Liebe blühte erst mein Ich;
sie könnte jenen wilden Hass vereiteln,
der eisig sich in meine Seele schlich.

Dann säßen wir wohl beieinander dicht,
ein Feuer surrte leise im Kamine.
Ich lauschte, was die liebe Lippe spricht,
und Frieden schwebte ob der Teeterrine
so wie ein Falter um das Lampenlicht.
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Donnerstag, 5. Mai 2016

Die unaufhaltsame Menschwerdung des Göttlichen und die Rolle des Islam

Der Islam ist eine heftige Gegenbewegung zu der Tatsache, dass Gott Mensch geworden ist, psychologisch formuliert, dass menschliche Entwicklung darauf angelegt ist, Unbewusstes in Bewusstsein zu verwandeln. Die christlichen Kirchen waren zu feigherzig, den Fehdehandschuh seitens des Islam aufzunehmen. Das geringere Übel ist, dass sie daran selbst zugrunde gehen könnten. Schlimm dagegen ist, wie orientierungslos die Menschheit geworden ist - eine Folge kirchlicher Indifferenz.

Die Gläubigen sind nicht mehr Klein-Dummchen!

Wären die Kirchen in eine notwendige echte Auseinandersetzung mit dem Islam gegangen, hätten sie ihr eigenes Profil schärfen können und wären wesentlich glaubwürdiger für den Menschen der Gegenwart gewesen, der sie fürderhin ernst genommen hätte. Vielleicht hätten die Kirchen dann selbst gemerkt, dass sie ihre Schäfchen nicht mehr - etwas überspitzt formuliert - wie Klein-Dummchen behandeln können. Der Mensch von heute bedarf einer anderen Ansprache als während der letzten Jahrhunderte.

Wer möchte: hier weiterlesen
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