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Montag, 23. Mai 2016

Die Liebe ist des Menschen Licht und seine Finsternis, deren Ende er nicht absieht.

C.G. Jung über die Liebe gegen Ende seiner Autobiographie Erinnerungen, Träume, Gedanken:

Meine ärztliche Erfahrung sowohl wie mein eigenes Leben haben mir unaufhörlich die Frage der Liebe vorgelegt, und ich vermochte es nie, eine gültige Antwort darauf zu geben (...) Es geht hier um Größtes und Kleinstes, Fernstes und Nahestes, Höchstes und Tiefstes, und nie kann das eine ohne das andere gesagt werden. Keine Sprache ist dieser Paradoxie gewachsen. Was immer man sagen kann, kein Wort drückt das Ganze aus. Von Teilaspekten zu sprechen, ist immer zuviel oder zuwenig, wo doch nur das Ganze sinngemäß ist. Die Liebe »trägt alles« und »duldet alles« ❴I.Cor. XIII,7❵. Dieser Wortlaut sagt alles. Man könnte ihm nichts beifügen. Wir sind nämlich im tiefsten Verstande die Opfer oder die Mittel und Instrumente der kosmogenen »Liebe«. Ich setze dieses Wort in Anführungszeichen, um anzudeuten, daß ich damit nicht bloß ein Begehren, Vorziehen, Begünstigen, Wünschen oder ähnliches meine, sondern ein dem Einzelwesen überlegenes Ganzes, Einiges und Ungeteiltes. Der Mensch als Teil begreift das Ganze nicht. Er ist ihm unterlegen. Er mag Ja sagen oder sich empören; immer aber ist er darin befangen und eingeschlossen. Immer hängt er davon ab und ist davon begründet. Die Liebe ist sein Licht und seine Finsternis, deren Ende er nicht absieht. »Die Liebe höret nimmer auf«, auch wenn er  mit »Engelszungen« redete oder mit wissenschaftlicher Akribie das Leben der Zelle bis zum untersten Grunde verfolgte. Er kann die Liebe mit allen Namen belegen, die ihm zu Gebote stehen, er wird sich nur in endlosen Selbsttäuschungen ergehen. Wenn er ein Gran Weisheit besitzt, so wird er die Waffen strecken und ignotum per ignotius* benennen, nämlich mit dem Gottesnamen. Das ist ein Eingeständnis seiner Unterlegenheit, Unvollständigkeit und Abhängigkeit, zugleich aber auch ein Zeugnis für die Freiheit seiner Wahl zwischen Wahrheit und Irrtum.

* ignotum per ignotius bedeutet: das eine wie das andere ist uns unbekannt (ignotus) - will meinen: Demütig nur können wir uns zu der Wahrheit unseres letztendlichen Nicht-Wissens bekennen.

** mehr von C.G. Jung: Polarität, Trintität, Quaterntät: Wer zu heilig sein will, verkennt vielleicht, dass Böses auch sein Gutes haben könnte.

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