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Montag, 12. September 2016

Ausgetretene Pfade verlassen: Von der Religion des weißen Schneefeldes und dem Weg zur schönen Lilie.

Mir gefällt dieses Werk Regines so sehr, dass ich es - gleichsam als Logo - für die Fortsetzung meines letzten Post wiederverwende. Dort stand am Schluss im Mittelpunkt die Brücke, wie wir sie in Goethes Märchen von der schönen Lilie und der grünen Schlange finden, die das Land der Lilie von der gewöhnlichen Welt trennt, weil man nur zu bestimmten Zeiten und Bedingungen Zutritt gewinnt. Übrigens ist ja in der germanischen Mythologie der Regenbogen, Bifröst genannt, ebenfalls eine Brücke, welche die Welt der Götter und der Menschen verbindet.

Jenes Land zu betreten, das jenseits der Brücke beginnt und mit dem ich ein weißes, weites Schneefeld assoziiere, erinnert mich an jene Gefühle, die ich empfand, wenn ich damals - es sind nun gut dreißig Jahre her - von jenem Haus, das wir zu viert erworben hatten, auf Langlauf-Skiern Richtung Wald und dann durch den Wald glitt, wenn der Schnee über Nacht gefallen war und alles reines Weiß war, unberührt. Ob mitten durch den Wald oder auf Waldwegen oder über Felder zu gleiten: Immer war es ein Gefühl, als ob die Tatsache, dass man der Erste sei, der den Schnee berühren dürfe, ein ganz besonderes Privileg sei und eine besondere Wertschätzung dieser Situation gegenüber erfordere, aus der - man kann es nur so sagen - ein gewisses Gefühl der Heiligkeit resultiert.

In aller Regel gehen wir unser Leben lang recht ausgetretene Pfade, über die schon viele Menschen gegangen sind. Selten, dass Menschen auf der Erde etwas tun, was noch keiner vor ihnen tat, was noch keiner vor ihnen dachte, was noch keiner vor ihnen fühlte.
Aber es ist dies nicht nur ein Geschehen, was sich auf die Erde bezieht, sondern auch auf unsere Seele:

Ich glaube, ab einem bestimmten Punkt, ab einem bestimmten Geschehen verlassen wir als Menschen die ausgetretenen Pfade der Seele und eine Seele nimmt ihren eigenen Weg, geht über ihre Brücke, die nur für sie bestimmt ist. Das erinnert an Kafkas Türhüterlegende, im Rahmen deren ein Mann vom Lande sich zwangsläufig vor einer Tür niederlassen muss, hinter der das Gesetz beginnt, weil ihn ein Türhüter nicht einlässt. Es lohnt sich, sie zu lesen, denn sie ist in höchstem Maße spirituell. An deren Ende jedenfalls weiß der Mann vom Lande, dass er sterben wird; seltsamerweise beginnt er nun erst ein Licht aus jener Tür, die zum Gesetz führt, wahrzunehmen und nun erst fällt ihm auf, dass niemand je an ihm vorbei durch diese Tür wollte und genau danach fragt er den Türhüter. Und jener antwortet:  „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

Ich bin mir recht sicher, dass nicht jeder Mensch zwangsläufig durch diese Tür geht oder über jenes weiße Schneefeld. Am Ende von Entwicklungszyklen der Menschheit gibt es immer eine vielleicht recht große Zahl von Menschen, die einen anderen Weg gehen, der sie nicht ihrem eigentlichen und wahren Ziel näherbringt, eher vielleicht sogar im Gegenteil. Man muss das nicht werten, es hat auch nichts mit einem gleichsam moralischen Verständnis von Himmel oder Hölle, gut oder böse zu tun. Es ist einfach Fakt, dass Menschen sich für eine Gesinnung, eine Einstellung für eine Lebensweise und Sicht auf das Leben entscheiden. Und die hat Konsequenzen. Ich glaube, dass die Menschheit seit geraumer Zeit und vielleicht auch noch einige Dekaden an einem neuerlichen Scheideweg steht. Die eine Richtung weist Richtung Materialismus, Richtung reinem Naturalismus der Naturwissenschaften, dass also alles stofflich ableitbar sei, auch wenn die Elementarteilchen immer kleiner werden. Der österreichische Philosoph Peter Strasser spricht in diesem Zusammenhang in seinem Buch Ontologie des Teufels von einer Entgeistung, ja Seelenlosigkeit des modernen Menschen. Ich stelle fest, dass eine damit verbunden Einstellung momentan fast en vogue zu sein scheint, dass sich Atheisten besonders stark und selbstsicher vorkommen - zumindest tun sie so.
Bisweilen scheint es mir im Internet, wenn manche Menschen kategorisch alles Religiöse ins Reich der Fabel verweisen und Zeitgenossen, die noch auf so etwas hereinfallen, ggf. als fehlgesteuert durch die Kirchen ansehen, als ob das für jene mit einem gewissen Spaßfaktor verbunden sei, dagegen zu sein, dass, wie Tertullian es formuliert, die Seele von Natur aus christiana sei.

Ich persönlich glaube, dass der Spaß spätestens nach dem sogenannten Tod aufhört, denn wer den Geist ablehnt, sitzt dort im absolut Dunklen. Und es gibt dort keinen Schlaf, der manches eine Zeitlang mal erleichtert.
Ich vermute, dass Menschen, die über mehrere Leben bei dieser Einstellung bleiben, über keine Brücke gehen. Man muss sie nicht bedauern. Es ist auch nicht gut oder schlecht. Es ist einfach ihre Entscheidung. Ob sie bei dieser frei waren, ist eine andere Frage, die man mit ihnen nicht diskutieren kann, weil es Geist in diesem Sinn für sie nicht gibt, also auch nicht einen, der sie an der Nase herumführt, ganz im Sinne Goethes, der im Faust I, in Auerbachs Keller den Teufel selbst, also Mephistopheles zu Faust sagen lässt:


Den Teufel spürt das Völkchen nie,
Und wenn er sie beim Kragen hätte.

Manche dünken sich so frei, aber weil sie den Geist, auch in seiner Ausprägung als Mephistopheles, sprich Satan, nicht als real anerkennen, checken sie ihn auch nicht. Es kann und darf ihn ja nicht geben!

Die Alternative ist, dass ein Mensch in seiner Entwicklung hin zu der Erkenntnis, dass Materie nur ein anderer Aggregatzustand des Geistes ist, dass also, wie es Buddha formulierte, alle Dinge im Geist entstehen oder wie es das Johannes-Evangelium formuliert, im Anfang der Logos war, das Wort also, dieses Wissen nicht nur begrifflich erfasst, sondern mit seinem ganzen Wesen. Dieser Unterschied zwischen rein begrifflichem Erfassen und einem Erfassen mit dem ganzen Wesen ist heute besonders wichtig, weil gerade ethische und religiöse Begriffe erschreckend hohl geworden sind.

Dann ist er auf der Brücke. Und dann beginnt für ihn die wirkliche Freiheit, die Freiheit des weißen Schneefeldes, über die vor ihm noch nie jemand gegangen ist, ein Schneefeld, das nur für ihn bestimmt ist. Das ist ganz unabhängig davon, dass er sein bürgerliches Leben ganz normal lebt, vielleicht im Verein regelmäßig Tischtennis spielt oder mit Freunden Skat, mit seiner Frau einen Tanzkurs macht, was auch immer; ja, ich möchte behaupten, das ist sogar Voraussetzung und schützt am wirkungsvollsten vor Scheinheiligkeit.

In Goethes Märchen von der schönen Lilie und der grünen Schlange gibt es zwei Möglichkeiten, ins Land der schönen Lilie zu gelangen, die nichts anderes ist als unsere unvergängliche Seele.

In der Mythologie und der Literatur ist sie immer wieder angesprochen, so am Ende des Faust II, wenn es heißt, dass das Ewig-Weibliche uns hinanziehe. In der ägyptischen Mythologie ist es die Göttin Isis mit dem Horusknaben, in der Kunst ist es die Madonna mit dem Kind. In der Bibel sind es die Jungfrauen, die auf den Herrn warten, den Geist, den Gott allen Ursprungs.

Wer frauenbewegt das Weibliche als sekundär eingestuft fühlt, weil es nicht unmittelbarer Teil der Gottheit, nicht Geist, sondern Seele nur sei, steckt leider noch in einer sehr materialistischen Auffassung von Männlichem und Weiblichem. Das ist so, wie wenn sich die Materie beleidigt zurückzöge, weil sie scheinbar nicht Geist ist, der als Vaterenergie strahlt, nicht verstehend, wie wichtig sie ist, denn ohne ihr Sein, ohne das Sein der Materie würden wir nie jenes Licht sehen, das nur sie reflektiert. Auch das schönste Licht würde im materielosen All sich einfach in der Unendlichkeit verpuffen.

Zurück aber noch einmal zu dem weißen Schneefeld und den Spuren, die nur wir eingravieren dürfen. In gewisser Weise ist es ein Traum, eine Vision von mir, denn Goethes Märchen macht deutlich, dass der Weg zur schönen Lilie nicht dem über ein weißes Schneefeld gleicht. Der Jüngling, der in Goethes Erzählung für alle Suchenden steht, stirbt zunächst - die Lilie muss ihn wiedererwecken - und das ganze Geschehen macht deutlich, dass sich sehr viel ereignen muss, bevor sich der Tempel aus dem Erdinneren nach oben bewegt. Der goldene, silberne und eherne König manifestieren Seelenzustände, die es sich zu erarbeiten gilt, die Irrlichter, die Schätze aus sich herausschütteln, die todbringend und segensreich zugleich sein können, wollen durchschaut sein, und jeder braucht die Hilfe des Alten, dessen Licht nur dort Wirkung zeigen kann, wo Licht bereits da ist. Ein Licht, das wir mitzubringen haben, eine Arbeit, die wir zu leisten haben und die nur zu einem Ergebnis kommen kann, wenn wir diese innere Arbeit im Rahmen unserer alltäglichen Arbeit leisten; nur dort zeigt sich, wie wertvoll innere Arbeit ist.

Der Weg zur schönen Lilie ist voller Mühen und Arbeit, kein Spuren im weißen Schnee. Und doch ist vielleicht beides gar nicht so weit voneinander entfernt.

2 Kommentare:

Matthias hat gesagt…

Guten Tag Johannes,
immer wieder lese ich gerne bei dir.
Es bringt oft Klarheit in Sachverhalt, unbewußt spüre ich wenn etwas nicht stimmt,
aber dank deiner Ausführungen weis ich dann auch den Grund.
Vielen Dank

"Eines scheint offensichtlich: die Menschheit hat einen bestimmten Zustand allgemeiner Spannung erreicht – Spannung der Anstrengung, Spannung der Handlung, sogar Spannung des täglichen Lebens –, mit einer derart übertriebenen Hyperaktivität, einer so allgemeinen Hektik, daß die Spezies als ganzes einen Punkt erreicht zu haben scheint, wo sie den Widerstand zum Bersten bringen und zu einem neuen Bewusstsein durchbrechen muß oder in einen Abgrund der Finsternis und Trägheit zurückfallen wird.

Die Spannung ist so total und verbreitet, daß irgend etwas offensichtlich brechen muß. Es kann so nicht fortbestehen. Dies kann als sicheres Anzeichen betrachtet werden, daß ein neues Prinzip von Kraft, von Bewusstsein, von Macht in die Materie eingedrungen ist, das durch seinen Druck genau diesen zugespitzten Zustand verursacht ...."

Mutter, Agenda Juli 1958

http://glimpses.jimdo.com/

Johannes G. Klinkmüller hat gesagt…

Hallo Matthias,

schön, von Dir zu hören.

Gutes Vorwärtskommen in diesen turbulenten Zeiten! Mittlerweile dürfte manchen klargeworden sein, dass die breit gestreuten Gerüchte über das Eiapopeia des Wassermann-Zeitalters nur den Zweck hatten, viele von der notwendigen Arbeit an sich selbst und dem notwendigen Einsatz für unsere Gesellschaft abzuhalten.

Alles Gute,
Johannes