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Dienstag, 6. August 2019

Eine tief verletzte Mutter, Gertrud Kolmar: ... weil deine Augen vor mir zugefallen, / Dass du mich nicht mehr siehst.

"Du gehst" ist eines jener Gedichte, das den Tod ihres Kindes, das nie leben durfte, verarbeitet.
Gertrud Kolmar starb auf dem Weg oder unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz.
Leider ist diese Frau so unbekannt geblieben . . . dabei sind ihre Gedichte unvergesslich . . .

Du gehst die Treppen, gehst hinab, mein Knabe,
Durch Holz und Stein und Kalk.
Ich bleibe tief in Nächten, meinem Grabe,
Und möchte wie der dumpfe Schwalk
Verschwimmend fern im Schattenmeer ertrinken,
Ein fahler Vogelgeist,
Daß über dich die großen Flügel sinken,
Von denen du nichts weißt.

Doch spür' ich, meine Füße sind gekettet,
Weil du entfliehen mußt,
Kein wehes Wort, kein armer Blick dich rettet
Vor jenes Weibes nackter Brust,
Die Sphinx dich hält mit blutgefärbten Krallen,
Der Tierleib, dem du kniest,
Weil deine Augen vor mir zugefallen,
Daß du mich nicht mehr siehst.

Ich hab' dir meine weiße Milch gegeben;
Du wärest schwach und klein.
Nun bin ich falb. Gemalte Lippen schweben
Wie Falter um den bunten Wein,
Nun ward dein junger Schlaf mir fortgetragen
Und meiner Hand dein Haar,
Weil stumm die Flamme in dir aufgeschlagen,
Die dich aus mir gebar.

Ich kann ins Dunkel schweigen diese Wunde:
Kein Schelten noch Geklag.
Und nur die weiche Schwärze später Stunde
Will ich hinnehmen an den Tag,
Mit Trauer zu verhüllen meine Herbe
Und weil ich ohne Schrei
Zuweilen, wenn du schwärmtest, einsam sterbe,
Auf daß dein Leben fröhlich sei . . .

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