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Donnerstag, 31. Oktober 2019

Wenn das Leben aus dem eigenen Bett ein Gleisbett macht . . .

Ich bin im Dunkel und allein.

Und neben mir lehnt doch die Tür.
Wenn ich sie klinke, steh' ich ganz im Licht.
Da sind ein Vater, Mutter und die Schwestern,
Ein Hund, der stumm und freundlich spricht.

Wie darf ich lügen, und wie kann ich sagen,
Daß ich ins Finstre hingestoßen ward?
Ich hab' mich selbst aus allem fortgetragen.

Vor meinen Augen blühte Schnee.
Ich sah, daß er die Rispen zu mir neigte,
Zu meinen Jahren, und es tat mir weh.

Ich hatte nichts, dem Alter zu versöhnen
Mein Herz, das jung und rot wie Frucht erklang,
Es an die bleiche Kühle zu gewöhnen.

Da weint' ich sehr und ging
Und fand den Mann an einer Wegegabel,
War still und liebte und empfing.

Es sang in mir auf einer Geige
So süß, so leicht, im Anbeginn.
Nun singt es nicht mehr, wenn ich schweige.

Die Angst mit ihren Fleckenhänden kam,
Saß bei mir nieder, meinen Leib betastend,
Belud ein Grinsen: »Fühlst du keine Scham?«

»Wo blieb der Frauenring für deinen Finger ?
Du fürchtest Diebe, hältst ihn brav versteckt.«
Ist meine nackte Rechte denn geringer ?

So arm, so nackend wird es sich
Auch meinem Schoße bald entwinden.
Und wenn ich's denken muß, umkrampft es mich.

Es krallt sich ein und läßt mich zittern,
Wie Sturm den Baum im Winterfeld
Befreit von seinen letzten rost'gen Flittern.

So fegt es mir hinweg, was dünn und schal,
Die kleine Sorge, listiges Vergnügen,
Und bricht die Knospe auf der großen Qual.

Der großen Freude. O, ich will dich werfen
So wie ein Tier und glücklich sein! -
Ich finde Klauen, die ein Messer schärfen …

Es ist doch Nacht. Und ist ein Ding, das Schande heißt.
Ich darf dich nicht gebären.
Ich weiß den Schnellzug, der den Wald zerreißt.

Dem geh' ich zu an seinen blanken Gleisen
Und werde müd' und leg' mich froh zu Bett
Quer auf zwei flache Stäbe Eisen.

........................Gertrud Kolmar, "Die Gesegnete", in: "Weibliches Bildnis, zweiter Raum"

Wieder findet sich das Thema der Gertrud Kolmar, ihr Kind, das sie nicht gebären durfte. Aber auch die schonungslos aufgezeigte Situation in ihrer Familie, aus der sie sich selbst fortgetragen hat, wie sie, sich selbst als außerhalb ihrer sich befindend und gewiss nicht in sich ruhend formuliert.
Wie sie zu der Überschrift des Gedichtes gelangt, ist nur zu vermuten. - Ein weiblicher Hiob. So schwer fassbar diese Geschichte des Alten Testmants auch ist. Hiob mag wissen, dass all sein Leid sein Segen wurde.
Zu vermuten ist, dass diese Frau ohne die Worte, die sie in ihren Gedichten für ihr Leid und Elend fand, nicht hätte überleben können - bis zu jenem Tag in Auschwitz . . .
.
PS Auf diesem Blog finden sich weitere Gedichte der Gertrud Kolmar sowie einige, die ich aus dem lyrischen Werk der Gertrud Kolmar auswählte, weil sie mich persönlich sehr ansprachen: hier (Blog Methusalem)

Montag, 28. Oktober 2019

Nachts, / Wenn der orangene Mond sich ganz silbern gewandelt, / Kommen auch andere heimlich und bringen Gold . . . Bildnis eines Räubermädchens


Das Räubermädchen

Nachts,
Wenn der orangene Mond sich ganz silbern gewandelt,
Kommen auch andere heimlich und bringen Gold,
Hänger, klirrendes Springzeug, das um meinen Nacken tollt,
Blühende Steine, die man in dunklen Schächtelchen handelt,
In pfauenblauen und mohnroten Atlas rollt.
 

Alle nehme ich nicht: ich verachte die dummen Türkise;
Demanten sind glitzernd scharf, zu wirklich, ich liebe sie nicht.
Ich halte die graue Perle, ihr sinnendes Licht,
Und das Rätsel Opal - war so im Abend die Wiese ? -
Und den Zitrontopas, der Unheil zerbricht.
 

O grüne Schlangenaugen, heißt ihr smaragden ?
So sind Augen, die sich mit mir gefüllt,
Bis ich sagte »Genug« und mein Mund sie umhüllt,
Wenn Er vertauschte mit mir die Lust seiner Jagden
Und die geströmte Felldecke niederschlug, plump und zerknüllt.
 

Was ist gut ? Ich weiß nicht. Wird Gott mich strafen ?
Was ist böse ? Mich hat keiner Bosheit gelehrt.
Fraun tragen Ketten und Kinder; der Mann trägt ein Schwert,
Und es ist süß, an einer Brust zu schlafen,
Die anders als unsere, hart und zottig bewehrt.
 

Bald,
Wenn wieder große Waffen silbern sich kreuzend blitzen,
Kaufmanns Gewand in gelbe und schwarze Blumen zerfliegt,
Such' ich ein altes Lied zusammen, das schläfert und wiegt;
Aber den Natternzaubrer in Mauerritzen
Hat schon des Kindes grünliches Blinzeln besiegt.


(aus G. Kolmar, Weibliches Bildnis in vier Räumen)

Man muss in der Lyrik eines Georg Heym, eines Hölderlin, eines Rilke der Duineser Elegien, einer Gertrud Kolmar nicht alles verstanden haben. Man nähert sich den Bildern eines schreibenden Gegenüber, seinen Farben, seinen Tieren, seinem Personal. Es gibt kaum etwas Wertvolleres, als mit den Bildern und Worten anderer anders und auf neuen Wegen denken zu lernen. Man befreit sich selbst, sein eigenes Denken und macht es reicher, umfassender, tiefer.

Sonntag, 27. Oktober 2019

Wuchs nicht der ersten Menschen Schatten hinter uns hcch / da wir beieinander standen.


Am erweiterten Strande des Meeres
blieb ich zurück
klagend über die Flut
die das Meer mir brachte
und unerbittlich wieder zurücknahm.

Aber vielleicht ist es nur dies
dass ein Leben nicht ausreicht
abzuwarten
bis sie zurückkommt.
             (aus Paula Ludwig, Dem dunklen Gott II)


Mittwoch, 23. Oktober 2019

Einst zog ich Gott mit meinen Kleidern ab . . . - Wem schreibt Gott schon einen Herbstmondbrief?

Einst zog ich Gott mit meinen Kleidern ab.                   
Ich warf ihn hin. Er hing vom Stuhl herab,
Wo schmaler Florstrumpf um die Lehne rankte.
Wie lang schon, daß ich nicht mit ihm mehr zankte!

Den Wänden ward mein Antlitz zugekehrt.
In lockre Träume stieg ich unbeschwert;
Aus meinen Hüften brachen blaue Falter,
Mit nackter Sohle trat ich Staub und Alter.

Und als sich Wiesenlandschaft wirr verschob,
Ein Nachtmeer schauernd mich in Morgen hob,
Da griff ich Hemd und Kittel, Gurt und Kragen,
Fand nicht mehr Gott und dachte nicht an Fragen. -

Ich war allein und schluchzte, rief und rief
Und schrie. Doch Gott schrieb einen Herbstmondbrief,
Gott rollte Sterne aus dem Wunderknäuel.
Und mir am Bette kniet' ein blödes Scheuel.

Ich streute Lampenwärme, gelben Sand,
Es zuzudecken. Wühlte Tuch und Band,
Gott nachzuspähn. Bin müd in mich verkrochen. -
Gott lag sehr fest um meinen Stirnenknochen.

Er war mir angewachsen als die Haut,
Von Glut geschwächt, in Frösten aufgerauht,
Ganz fahl und wund gebeizt von bittren Laugen.
Und fiel als Lid auf jedes meiner Augen.

Wie so viele Menschen ist auch Gertrud Kolmar von Gott enttäuscht.
Der schreibt Herbstmondbriefe und rollt Sterne, aber wenn man ihn braucht, ist er nicht da.

In "Die Leugnerin" thematisiert sie die Erfahrung unseres Menschseins in einer Zeit, wo Gott und die Götter hinweggedämmert sind, so dass manche einfach zu der Lösung greifen, dass sie Gott zum Teufel wünschen und einen auf Atheist machen oder aber brutal fest glauben und alle Zweifel weggecleant und -gestaubsaugt werden, damit auch ja nichts anderes gedacht werden mag . . . oder Gedichte schreiben und Gott über die Stuhllehne werfen zusammen mit den Kleidern.

Es ist diese bestechende Schonungslosigkeit und Ehrlichkeit, die so an dieser Frau fasziniert. Aus nichts macht sie ein Hehl, nicht aus ihrer Weiblichkeit, die sie nicht so ausleben darf wie sie möchte, nicht aus ihrem Mauerblümchendasein, wenn sie sich als Kröte sieht und doch um einen Edelstein weiß, den sie in sich trägt.
Für mich hat er viele Kinder - und es sind ihre Gedichte.

In Bezug auf Gott scheint im Übrigen das letzte Wort noch nicht gesprochen. Da gibt es noch Klärungsbedarf. So einfach lässt er sich via Kleider nicht über die Stuhllehne entsorgen. Sogar auf den eigenen Lidern spürt sie ihn.

Samstag, 19. Oktober 2019

"Du bist mein Haus an allen Straßen der Welt, in jeder Senke, auf jedem Hügel." - aus Gertrud Kolmars "Der Engel im Walde"

Der Engel im Walde

Gib mir deine Hand, die liebe Hand, und komm mit mir;
Denn wir wollen hinweggehen von den Menschen.
Sie sind klein und böse, und ihre kleine Bosheit haßt und
peinigt uns.
Ihre hämischen Augen schleichen um unser Gesicht, und ihr
gieriges Ohr betastet das Wort unseres Mundes.
Sie sammeln Bilsenkraut . . .
So laß uns fliehn

Zu den sinnenden Feldern, die freundlich mit Blumen und
Gras unsere wandernden Füße trösten,
An den Strom, der auf seinem Rücken geduldig wuchtende
Bürden, schwere, güterstrotzende Schiffe, trägt,
Zu den Tieren des Waldes, die nicht übelreden.
Komm.
Herbstnebel schleiert und feuchtet das Moos mit dumpf
smaragdenem Leuchten.
Buchenlaub rollt, Reichtum goldbronzener Münzen.
Vor unseren Schritten springt, rote zitternde Flamme, das
Eichhorn auf.
Schwarze gewundene Erlen züngeln am Pfuhl empor in
kupfriges Abendglasten.

Komm.
Denn die Sonne ist nieder in ihre Höhle gekrochen und ihr
warmer rötlicher Atem verschwebt.
Nun tut ein Gewölb sich auf.
Unter seinem graublauen Bogen zwischen bekrönten Säulen
der Bäume wird der Engel stehn,
Hoch und schmal, ohne Schwingen.
Sein Antlitz ist Leid.
Und sein Gewand hat die Bleiche eisig blinkender Sterne in
Winternächten.

Der Seiende,
Der nicht sagt, nicht soll, der nur ist,
Der keinen Fluch weiß noch Segen bringt und nicht in Städte
hinwallt zu dem, was stirbt:
Er schaut uns nicht
In seinem silbernen Schweigen.
Wir aber schauen ihn,
Weil wir zu zweit und verlassen sind.

Vielleicht
Weht ein braunes, verwelktes Blatt an seine Schulter, entgleitet;
Das wollen wir aufheben und verwahren, ehe wir weiterziehn.

Komm, mein Freund, mit mir, komm.
Die Treppe in meines Vaters Hause ist dunkel und krumm
und eng, und die Stufen sind abgetreten;
Aber jetzt ist es das Haus der Waise und fremde Leute wohnen
darin.
Nimm mich fort.
Schwer fügt der alte rostige Schlüssel im Tor sich meinen
schwachen Händen.
Nun knarrt es zu.
Nun sieh mich an in der Finsternis, du, von heut meine Heimat.
Denn deine Arme sollen mir bergende Mauern baun,
Und dein Herz wird mir Kammer sein und dein Auge mein
Fenster, durch das der Morgen scheint.
Und es türmt sich die Stirn, da du schreitest.
Du bist mein Haus an allen Straßen der Welt, in jeder Senke,
auf jedem Hügel.
Du Dach, du wirst ermattet mit mir unter glühendem Mittag
lechzen, mit mir erschauern, wenn Schneesturm peitscht.
Wir werden dürsten und hungern, zusammen erdulden,
Zusammen einst an staubigem Wegesrande sinken und
weinen . . .
(aus "Welten", dem letzten Zyklus der Gertrud Kolmar")

Freitag, 18. Oktober 2019

Die ADAC-Autoversicherung und das Dilemma des modernen Menschen: der Mensch, ein großer Kopf (mit Mini-Körper)

Werbestrategisch ist die Werbung der neuen ADAC-Autoversicherung gewiss ein Hingucker und gekonnt gemacht (so ähnlich wie diese schreckliche homeday-Werbung mit der zischenden Männer-Hand auf dem heißen Grill oder der Frauen-Hand, die den Kaktus umkrallt - für mich ein Grund, auf entsprechende Dienstleistungen, wenn ich denn in die Lage käme, komplett zu verzichten). Zurück zur ADAC-Webung: Dieser Kopf löst einfach Freude aus. So viel Ästhetik auf einem Fleck . . . (würg).

In der Fernsehwerbung sitzt der Typ in seinem Auto und sieht etwas und husch - auf einmal wird sein Kopf riesengroß, kein Körper ist mehr zu sehen, der Kopf, ein flächig wirkendes Gesicht, bockt im Grunde am Autodach auf und guckt in die Richtung, wo es etwas schrecklich Wichtiges zu sehen gibt (der Rumpf fehlt, macht nichts, es ist ja das Auto da als Rumpfersatz - hier im Bild ist der Körper ja noch zu sehen). Hat der Typ ausgeguckt, verkleinert sich der Kopf blitzartig, sitzt im Autoinnern wieder auf dem Rumpf des Fahrers - und damit ist die Werbung zu Ende (natürlich noch mit entsprechenden Produkthinweisen versehen).

Davon abgesehen, dass der riesengroßen Kopf ohne Körper bei mir gewisse Übelkeitsgefühle auslöst, zeigt diese Werbung genau die Realität des Menschen, wie sie sich heute darstellt. Begonnen hat diese Zeit der immer größer werdenden Köpfe bekanntlich mit Newton, Galilei und einigen anderen, als sich der Mensch zunehmend den modernen Naturwissenschaften zuwandte und alles Wissen immer abstrakter wurde (die Naturwissenschaften können dafür nichts, sie braucht deshalb niemand zu verdammen).

Auch wenn der Mensch nicht nur den Kopf, sondern auch den Körper, indem er ihn sauber vom großen Kopf abtrennt, so in den Vordergrund rückt, ihn toll zu ernähren sucht, ihm immer haarsträubendere Leistungen abverlangt, ihn immer mehr stylt und versexualisiert: In Wahrheit lebt dieser Körper nicht. Ob sich die Seele (falls sie noch in solchen Körpern Platz hat) auf Dauer wohlfühlt, auch wenn der Körper schreit: Ich bin, ich bin?
Eine Heidi Klum ist - wohlgemerkt ist das meine subjektive Sicht, mein Empfinden - eine Ausstellpuppe mit einem ewig gleichen Lächeln/Lachen (wofür vor allem der bzw. ihr Kopf da ist) und es gibt Sportarten, da rennen Menschen kopflos hinter einem Ball her, verdienen in der Minute so viel wie ein Arbeiter in seinem ganzen Leben und werden angehimmelt oder ggf. von Fans und Sportexperten zu Boden getrampelt. Es gibt Menschen unter ihnen, wo der Kopf nicht immer das Gleiche sagt (Jogi Löw sagt eigentlich immer das Gleiche, finde ich, und die meisten seiner herumrennenden Boys auch); aber dass es unter ihnen auch andere gibt, ist eher die Ausnahme.

Eine lebendige Ganzheit von Körper und Kopf findet sich nur noch ganz selten. Diese Ganzheit muss nichts ausstellen, muss sich nichts beweisen, sondern der Kopf ist in ständiger Verbindung mit dem Körper und erzählt ihm, was es so wahrzunehmen gibt, und der Körper sendet die Signale, die er empfängt zum Kopf.
Keiner dominiert den anderen, der eine ist für den anderen da, mal mag der eine mehr zu sagen haben, mal der andere, aber insgesamt ist es eine große Ausgeglichenheit.

Die künstliche Intelligenz ermöglicht den kopflosen Menschen

Immer mehr Menschen kann man sich wirklich gut auch ohne Kopf vorstellen und darauf arbeitet auch die Künstliche Intelligenz hin: Sie wird die Körper übernehmen, die in Wirklichkeit gar keinen menschlichen Kopf wollen, sondern nur ein großartiger Körper sein wollen, ein Funktionsmechanismus, der zunehmend mehr Jahre arbeitet und freizeitet - was auch sonst noch?

Wir sprechen von einem Zerrbild Mensch, dem alles abstrakt geworden ist, für den nicht wirklich die Dinge leben, der toll mit Begriffen um sich werfen kann, ohne zu merken, dass diese Begriffe kein Blut mehr haben.
Wie können manche Leute toll über Liebe reden, aber man spürt: diese Liebe ist total blutleer.
Wie können manche Pfarrer großartig über Gott reden: Aber man spürt. dieser Gott ist total blutleer.
Ja es gibt auch Esoteriker, die toll über Ganzheitlichkeit reden können. aber man spürt, diese Ganzheit ist ganz schön kaputt, nicht existent, existiert in Worten, die nur Buchstaben sind, ohne Gefühl, ohne Leben, ohne Geist.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gerede der meisten Politiker. In ihrer neuesten Variante - Donald Trump und Boris Johnson - lügen sie mehr, als dass sie die Wahrheit sagen mit dem Effekt, dass die ihnen zuhörenden Kopfgesteuerten, wenn die beiden mal nicht lügen, die Tatsache, dass die beiden aus Versehen die Wahrheit sagen, besonders zu würdigen wissen, wobei insgesamt sich der Kopf der Menschheit einfach zunehmend auf Lügen einstellt (Michael Ende hat das in seiner ´Unendlichen Geschichte´ vorausgesehen, indem sich zunehmend das Nichts ausbreitet und die kindliche Kaiserin sterbenskrank ist und er auch den Lügen eine bestimmte Funktion zuweist).

Schule als Abbild des zerteilten Menschen

Möglich ist solch eine Entwicklung, weil alles immer mehr in Einzelteile zerlegt wird ohne Verbindung zueinander. Das ist dann wie in der Schule: Über Licht und seine Brechung wird in der Physik gesprochen, über den Phototropismus der Pflanzen - also dass sie sich dem Licht zuwenden - in der Biologie, mittels der Mathematik berechnen wir die Lichtgeschwindigkeit, in der Religion sprechen wir über Jesus als das Licht der Welt, in Haydns großen Oratorium  "Die Schöpfung" hören sich die Schüler an, wenn so großartig erklingt: Es werde Licht, in Deutsch wird über die Abwesenheit von Licht bei Kafka gesprochen - ständig bewegen sich dort die Menschen im Halbdunkel und Dämmrigen - und in der Kunst werden Arbeiten hergestellt, bei denen es um Licht und Schatten geht.
Dass aber immer im Grunde über ein und dasselbe Licht gesprochen wird: Interessiert das noch jemanden? Sehen das die Lehrplangestalter nicht, wie grauenvoll inneres Licht von äußerem getrennt wird, obwohl beides so sehr miteinander zu tun hat? Dass alles in Fächer aufgeteilt wird und bei Schülern gar kein Bewusstsein entstehen kann, wie sehr Inneres und Äußeres miteinander zu tun haben, Natur und Geist, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften?!
Interessiert noch jemand, dass es sinnvoller wäre, eine Unterrichtseinheit zum Thema Licht zu machen und zu fragen, welche Fächer zur Erhellung dieses Phänomens und seiner Bedeutung für uns Menschen beitragen können, es somit um Sinn und Bedeutung geht, nicht um Faktenwissen?!

Der willige Kopf macht alles mit. Vorausetzung ist, dass er sauber vom Körper getrennt ist.

Eine erfolgreiche Strategie derer, die zunehmend die Menschheit entmenschlichen. Oder wer hat das inszeniert, dass Menschen entweder mit aufgedunsenen Körpern oder mit aufgedunsenen Köpfen durch die Gegend laufen? Das wär mal eine Frage, der sich Talk-Sendungen widmen könnten, nicht immer demselben Politeinerlei, das nur deshalb ständig sich wiederholt, weil die wirklichen Fragen nicht angegangen werden.

Dass eine Werbung das alles mal so auf den Punkt bringt, hätte ich nicht gedacht.


Mittwoch, 16. Oktober 2019

Es gibt Namen, die beflecken / Die Lippen, die sie nennen, / Die Erde mag sie nicht decken ... - Ricarda Huchs "Mein Herz, mein Löwe"!

Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest,
Sein Geliebtes fest in seinen Fängen,
Aber Gehaßtes gibt es auch,
Das er niemals entläßt
Bis zum letzten Hauch,
Was immer die Jahre verhängen.
Es gibt Namen, die beflecken
Die Lippen, die sie nennen,
Die Erde mag sie nicht decken,
Die Flamme mag sie nicht brennen.
Der Engel, gesandt, den Verbrecher
Mit der Gnade von Gott zu betauen,
Wendet sich ab voll Grauen
Und wird zum zischenden Rächer.
Und hätte Gott selbst so viel Huld,
Zu waschen die blutrote Schuld,
Bis der Schandfleck verblasste, –
Mein Herz wird hassen, was es haßte,
Mein Herz hält fest seine Beute,
Daß keiner dran künstle und deute,
Daß kein Lügner schminke das Böse,
Verfluchtes vom Fluche löse.
                                  (Ricarda Huch, 1864-1947)

Es gibt eine Vergebens-Esoterik, gern auch aus der Ecke der Licht-und-Liebe-Fraktion, der man mit höchster Vorsicht gegenüberstehen sollte, denn sie wird betrieben von Menschen, die, bevor sie ihre Gefühle wirklich ausgelotet haben, schon vergeben.


Ricarda Huch (1864-1947), wohl einer der weisesten Frauen, die Deutschland je gesehen hat, zudem eine überzeugte Christin, gibt in obigem Gedicht Töne von sich, die so gar nicht passen wollen zu jemandem, der mit dem Buch „Luthers Glaube” ein Werk geschaffen hat, das fast auf jeder Seite eine Offenbarung ist.

Hier in diesem Gedicht geht es ihr um die Verlogenheit, die in dem Schminken des Bösen steckt, um das Umschminken von Bösem in Gutes. Böse bleibt böse. Noch bis in die letzten Zeilen hinein bleibt Ricarda Huch unerbittlich. Selbst gegen göttliches Reinwaschen scheint sie sich zu stellen.


So viel ich weiß, hat Ricarda Huch dieses Gedicht 1947, in ihrem Todesjahr also, geschrieben, sie, die von Thomas Mann 1924 als Erste Frau Deutschlands bezeichnet wurde und die als erste Frau 1926 in die Preußische Akademie der Künste einzog, um sie 1933 konsequent wieder zu verlassen.

Ganz wohl fühle ich persönlich mich angesichts der unerbittlichen Worte, die dem Hass das Wort reden, nicht. Noch in die Zukunft hinein – die Verwendung des Futurs dokumentiert das – legt sie sich fest. Die Rigorosität ihrer Aussage ist unverkennbar. Ich vermute, sie hängt zusammen mit dem, was sie über viele Jahre mit ansehen musste. Das hinterlässt gerade in einer so sensiblen Seele Spuren, und es mag sein, dass sie auch deshalb zu solchen Worten griff, weil sich abzuzeichnen begann, dass sich in Deutschland eine Kultur des Von-nichts-mehr-wissen-Wollens und Hinwegsehens andeutete. 

Mir persönlich ist eine Aussage wie die ihre, auch wenn sie aus christlicher Sicht fragwürdig sein mag, zehnmal lieber als das Gesäusel berufsmäßiger Vergebens- und Vergessenskünstler. 
Ricarda Huchs "Hass" dünkt mir eh viel eher ein gerechter und wahrlich gerechtfertigter Zorn zu sein, der sich gegen jene richtet, die scheinheilig vergeben, in Wirklichkeit aber das Böse - auch in sich - nur schminken.

PS: In meinem Kommentar (ggf. auf "Kommentare" klicken) revidiere ich die Sichtweise des letzten Satzes insofern, als ich Hass nicht mehr in Zorn umdeuten mag, vielmehr für wichtig halte, den Hass als solchen anzunehmen, weil diese Annnahme den Weg freigibt, ihn zu überwinden und den Weg der Heilung zu beschreiten. Insofern ist Ricarda Huchs Gedicht, so belastend auch ihr Hass sein mag, auf dem Weg zur Heilung, denn nur das Sich-Bekennen zu dem, was in einem ist, hilft auf dem Weg zur Wahrheit.

Donnerstag, 10. Oktober 2019

"Vorbei - verjährt - / Doch nimmer vergessen." Was Joachim Ringelnatz wirklich wichtig ist: "Ich hab dich so lieb."

Joachim Ringelnatz (1883-1934)

ICH HABE DICH SO LIEB

Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
Eine Kachel aus meinem Ofen
Schenken.


Ich habe dir nichts getan.

Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
Leuchtet der Ginster so gut.

 

Vorbei – verjährt –
Doch nimmer vergessen.

Ich reise.
Alles, was lange währt,
Ist leise.

 

Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.

Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.


Ich lache.

Die Löcher sind die Hauptsache
An einem Sieb.

 

Ich habe dich so lieb. 

Natürlch erinnert das Gedicht an Tucholskys Augen in der Großstadt mit dem berühmten vorbei, verweht, nie wieder.

Auch hier finden wir Vergleichbares: Vorbei - verjährt -

Liebe macht höchstens Station. "Ich reise." Im Grunde ist sie immer unterwegs. Wie wir.

Und irgendwie könnte man das Lachen der vorletzten Strophe ernst nehmen wollen. Aber in Wirklichkeit glaubt man dem nicht, dass die Löcher an einem Sieb die Hauptsache seien.
Irgendetwas bleibt eben doch hängen. - Womöglich ist genau das das Entscheidende.
Da kann Ringelnatz so gekonnt wie er will Belanglosigkeiten wie das Bellen eines Hundes einblenden.

Am Anfang und Ende steht nun mal die Wahrheit:

Ich hab dich so lieb.

Solch einen Satz aus tiefstem Herzen zu sagen: Darin besteht nunmal der Sinn der Weltgeschichte.
Das ist es, was bleibt.
Auch wenn Ringelnatz sich immer wieder weidlich bemüht, dem Leben seinen tiefen Ernst zu nehmen. Mit solchen Gedichten zeigt er ihn in Wirklichkeit auf.

Samstag, 5. Oktober 2019

Gertrud Kolmars Erntedank: "O Herz! O Frucht! O Zeit! O Wille! / Wie lieblich seid ihr hergereift!" - Nichts geht verloren!

                    

Wappen von Zinna  
 
In Blau eine goldgewandete Frauengestalt, die in
der rechten Hand eine Traube trägt und einen
Apfel in der linken.

O Herz! O Frucht! O Zeit! O Wille!
Wie lieblich seid ihr hergereift!
Wie hat euch Hand der Sommerstille
Mit sonngemaltem Glanz gestreift,
Wie scheint ihr sanft mit gelber Schale
Und flimmert heiß mit blühndem Rot
Und geht geschmückt zum ew'gen Mahle,
Da selbst ihr Speise seid und tot.

Das aber ist, wofür ihr glühtet,
Ihr Hauch und Strahl euch angeschmiegt
Und tief den kleinen Kern behütet,
Der braun und blinkend in euch liegt.
Die Wange, klar von Regenzähren,
Hobt lächelnd ihr dem Lichte nach
Und lauschtet froh der Säfte Gären,
Das süß und singend in euch sprach.

Wohl allem, was nicht siech gefallen,
Schon vor des Pflückers Griff und Schnitt,
Was nicht verdorrt aus Feuerkrallen,
Verfault aus schleim'ger Feuchte glitt,
Was, wenn es Erntehand verschmähte,
Zu jener Scholle legt ein Wind,
Die selber säte, selber mähte
Und immer Mutter war und Kind.

Was singt wie Herz mit roten Saiten,
Erglüht wie Apfels goldne Stirn
Und aufwirft über Jahresbreiten
Den Arbeitstag von Pflug und Hirn,
Das ruht einst müd' im Erdensinnen,
Vom Winterschneesturm ungeweckt,
Und träumt nur weißes, leises Rinnen,
Das liebend seine Spuren deckt.

Glühen, um zu sterben? - In der Tat, so sieht es Gertrud Kolmar im Übergang von der ersten zur zweiten Strophe:
Da selbst ihr Speise seid und tot. // Das aber ist, wofür ihr glühtet . . .

Glühen, um zu sterben: das ist Goethes ewiges Stirb und Werde, was zugleich ein Werde, um zu sterben ist, eine Aussage, die man nur versteht, wenn man weiß, dass der Tod nur eine andere Form des Lebens ist, ein Leben, das wir Tod nennen, weil die Zeit zwischen den Leben für uns Menschen eine black box geworden ist, in die uns unsere über Jahrhunderte gewachsene materialistische Sicht auf das Leben verwehrt, Einblick zu nehmen. Wenn wir es könnten, würden wir wahrnehmen können, was alles wir im Leben zwischen unseren Leben taten, um in unserem augenblicklichen sinnvoll tätig zu sein. Vermutlich würden nicht wenige Zeitgenossen - vielleicht auch wir - viel bewusster mit unserer Lebenszeit umgehen, die wir doch so gründlich vorbereiteten.

Uns ist ebenso die Sicht auf das Erdinnere verwehrt, wo sich träumend neues Leben vorbereitet - und die letzten Zeilen des Gedichtes verweisen genau darauf - , so wie wir in unseren Nächten von neuen Tagen träumen und sie vorbereiten. Das Gedicht Wappen von Zinna klingt in tiefem Frieden aus, wissend, dass unter dem Winterschnee etwas vor sich geht, was Joseph von Eichendorff in seiner Wünschelrute so erfasst:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort.
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Die erste Strophe besingt Wachstum und Gedeihen und erinnert an Matthias Claudius´ Erntedank-Hymnus und wir verstehen nun, warum die letzte Zeile der ersten Strophe in keinster Weise negativ zu verstehen ist.

Die zweite lässt uns das Wappen von Zinna tiefgehender verstehen und noch die erste Hälfte der dritten Strophe singt ein Loblied auf die Ernte; doch das Wohl allem des Stropenauftaktes gilt eben auch jenem, was sich im Kreislauf der Natur, ohne geerntet worden zu sein, zur Scholle legte, die nimmt und wieder gibt.

Dieses Gedicht, das zu den Preußischen Wappengedichten von Gertrud Kolmar gehört, zeigt das gewachsene Sprachbewusstsein der Dichterin, das sich bis zu dem Zeitpunkt, als sie in deutscher Sprache zu schweigen begann, bevor ihre Stimme in Auschwitz endgültig für uns Lebende verlorenging, mehr und mehr zu zeigen wusste. In den vier Strophen des in vierhebigem Jambus durchweg kreuzgereimten Gedichtes zeigen sich viele formale Mittel, seien es Anaphern, Alliterationen, Binnenreime, Dikola oder auch Metaphern, denen insofern eine hohe Bedeutung zukommt, weil an keiner Stelle von Gott dem Herrn, von dem Matthias Claudius in Wir pflügen und wir streuen zu singen weiß, die Rede ist, doch von der Hand der Sommerstille, von sonngemaltem Glanz und ew´gem Mahle. 

Wie so oft erweist es sich, dass sich eine innere Religiosität und das Wissen um unser Werden und Vergehen, um das Geheimnis von Tod und Leben, überzeugender kundtut, wenn es leise angesprochen wird, als laut und oberflächlich.

Diese weitgehend vergessene gewaltige Dichterin deutscher Sprache weiß um all dies und die ersten beiden Zeilen dieses Gedichtes teilen uns mit, wie herzinnig ihr Ausruf gemeint kann; man vermag es zu fühlen, wie sehr sie die Traubem und Äpfel des Lebens, die die Frau des Wappens hochhält, schätzt:

O Herz! O Frucht! O Zeit! O Wille!
Wie lieblich seid ihr hergereift!


Möge auch uns eine solche Wertschätzung möglich sein!