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Mittwoch, 23. Oktober 2019

Einst zog ich Gott mit meinen Kleidern ab . . . - Wem schreibt Gott schon einen Herbstmondbrief?

Einst zog ich Gott mit meinen Kleidern ab.                   
Ich warf ihn hin. Er hing vom Stuhl herab,
Wo schmaler Florstrumpf um die Lehne rankte.
Wie lang schon, daß ich nicht mit ihm mehr zankte!

Den Wänden ward mein Antlitz zugekehrt.
In lockre Träume stieg ich unbeschwert;
Aus meinen Hüften brachen blaue Falter,
Mit nackter Sohle trat ich Staub und Alter.

Und als sich Wiesenlandschaft wirr verschob,
Ein Nachtmeer schauernd mich in Morgen hob,
Da griff ich Hemd und Kittel, Gurt und Kragen,
Fand nicht mehr Gott und dachte nicht an Fragen. -

Ich war allein und schluchzte, rief und rief
Und schrie. Doch Gott schrieb einen Herbstmondbrief,
Gott rollte Sterne aus dem Wunderknäuel.
Und mir am Bette kniet' ein blödes Scheuel.

Ich streute Lampenwärme, gelben Sand,
Es zuzudecken. Wühlte Tuch und Band,
Gott nachzuspähn. Bin müd in mich verkrochen. -
Gott lag sehr fest um meinen Stirnenknochen.

Er war mir angewachsen als die Haut,
Von Glut geschwächt, in Frösten aufgerauht,
Ganz fahl und wund gebeizt von bittren Laugen.
Und fiel als Lid auf jedes meiner Augen.

Wie so viele Menschen ist auch Gertrud Kolmar von Gott enttäuscht.
Der schreibt Herbstmondbriefe und rollt Sterne, aber wenn man ihn braucht, ist er nicht da.

In "Die Leugnerin" thematisiert sie die Erfahrung unseres Menschseins in einer Zeit, wo Gott und die Götter hinweggedämmert sind, so dass manche einfach zu der Lösung greifen, dass sie Gott zum Teufel wünschen und einen auf Atheist machen oder aber brutal fest glauben und alle Zweifel weggecleant und -gestaubsaugt werden, damit auch ja nichts anderes gedacht werden mag . . . oder Gedichte schreiben und Gott über die Stuhllehne werfen zusammen mit den Kleidern.

Es ist diese bestechende Schonungslosigkeit und Ehrlichkeit, die so an dieser Frau fasziniert. Aus nichts macht sie ein Hehl, nicht aus ihrer Weiblichkeit, die sie nicht so ausleben darf wie sie möchte, nicht aus ihrem Mauerblümchendasein, wenn sie sich als Kröte sieht und doch um einen Edelstein weiß, den sie in sich trägt.
Für mich hat er viele Kinder - und es sind ihre Gedichte.

In Bezug auf Gott scheint im Übrigen das letzte Wort noch nicht gesprochen. Da gibt es noch Klärungsbedarf. So einfach lässt er sich via Kleider nicht über die Stuhllehne entsorgen. Sogar auf den eigenen Lidern spürt sie ihn.

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