Seiten

Samstag, 5. Oktober 2019

Gertrud Kolmars Erntedank: "O Herz! O Frucht! O Zeit! O Wille! / Wie lieblich seid ihr hergereift!" - Nichts geht verloren!

                    

Wappen von Zinna  
 
In Blau eine goldgewandete Frauengestalt, die in
der rechten Hand eine Traube trägt und einen
Apfel in der linken.

O Herz! O Frucht! O Zeit! O Wille!
Wie lieblich seid ihr hergereift!
Wie hat euch Hand der Sommerstille
Mit sonngemaltem Glanz gestreift,
Wie scheint ihr sanft mit gelber Schale
Und flimmert heiß mit blühndem Rot
Und geht geschmückt zum ew'gen Mahle,
Da selbst ihr Speise seid und tot.

Das aber ist, wofür ihr glühtet,
Ihr Hauch und Strahl euch angeschmiegt
Und tief den kleinen Kern behütet,
Der braun und blinkend in euch liegt.
Die Wange, klar von Regenzähren,
Hobt lächelnd ihr dem Lichte nach
Und lauschtet froh der Säfte Gären,
Das süß und singend in euch sprach.

Wohl allem, was nicht siech gefallen,
Schon vor des Pflückers Griff und Schnitt,
Was nicht verdorrt aus Feuerkrallen,
Verfault aus schleim'ger Feuchte glitt,
Was, wenn es Erntehand verschmähte,
Zu jener Scholle legt ein Wind,
Die selber säte, selber mähte
Und immer Mutter war und Kind.

Was singt wie Herz mit roten Saiten,
Erglüht wie Apfels goldne Stirn
Und aufwirft über Jahresbreiten
Den Arbeitstag von Pflug und Hirn,
Das ruht einst müd' im Erdensinnen,
Vom Winterschneesturm ungeweckt,
Und träumt nur weißes, leises Rinnen,
Das liebend seine Spuren deckt.

Glühen, um zu sterben? - In der Tat, so sieht es Gertrud Kolmar im Übergang von der ersten zur zweiten Strophe:
Da selbst ihr Speise seid und tot. // Das aber ist, wofür ihr glühtet . . .

Glühen, um zu sterben: das ist Goethes ewiges Stirb und Werde, was zugleich ein Werde, um zu sterben ist, eine Aussage, die man nur versteht, wenn man weiß, dass der Tod nur eine andere Form des Lebens ist, ein Leben, das wir Tod nennen, weil die Zeit zwischen den Leben für uns Menschen eine black box geworden ist, in die uns unsere über Jahrhunderte gewachsene materialistische Sicht auf das Leben verwehrt, Einblick zu nehmen. Wenn wir es könnten, würden wir wahrnehmen können, was alles wir im Leben zwischen unseren Leben taten, um in unserem augenblicklichen sinnvoll tätig zu sein. Vermutlich würden nicht wenige Zeitgenossen - vielleicht auch wir - viel bewusster mit unserer Lebenszeit umgehen, die wir doch so gründlich vorbereiteten.

Uns ist ebenso die Sicht auf das Erdinnere verwehrt, wo sich träumend neues Leben vorbereitet - und die letzten Zeilen des Gedichtes verweisen genau darauf - , so wie wir in unseren Nächten von neuen Tagen träumen und sie vorbereiten. Das Gedicht Wappen von Zinna klingt in tiefem Frieden aus, wissend, dass unter dem Winterschnee etwas vor sich geht, was Joseph von Eichendorff in seiner Wünschelrute so erfasst:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort.
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Die erste Strophe besingt Wachstum und Gedeihen und erinnert an Matthias Claudius´ Erntedank-Hymnus und wir verstehen nun, warum die letzte Zeile der ersten Strophe in keinster Weise negativ zu verstehen ist.

Die zweite lässt uns das Wappen von Zinna tiefgehender verstehen und noch die erste Hälfte der dritten Strophe singt ein Loblied auf die Ernte; doch das Wohl allem des Stropenauftaktes gilt eben auch jenem, was sich im Kreislauf der Natur, ohne geerntet worden zu sein, zur Scholle legte, die nimmt und wieder gibt.

Dieses Gedicht, das zu den Preußischen Wappengedichten von Gertrud Kolmar gehört, zeigt das gewachsene Sprachbewusstsein der Dichterin, das sich bis zu dem Zeitpunkt, als sie in deutscher Sprache zu schweigen begann, bevor ihre Stimme in Auschwitz endgültig für uns Lebende verlorenging, mehr und mehr zu zeigen wusste. In den vier Strophen des in vierhebigem Jambus durchweg kreuzgereimten Gedichtes zeigen sich viele formale Mittel, seien es Anaphern, Alliterationen, Binnenreime, Dikola oder auch Metaphern, denen insofern eine hohe Bedeutung zukommt, weil an keiner Stelle von Gott dem Herrn, von dem Matthias Claudius in Wir pflügen und wir streuen zu singen weiß, die Rede ist, doch von der Hand der Sommerstille, von sonngemaltem Glanz und ew´gem Mahle. 

Wie so oft erweist es sich, dass sich eine innere Religiosität und das Wissen um unser Werden und Vergehen, um das Geheimnis von Tod und Leben, überzeugender kundtut, wenn es leise angesprochen wird, als laut und oberflächlich.

Diese weitgehend vergessene gewaltige Dichterin deutscher Sprache weiß um all dies und die ersten beiden Zeilen dieses Gedichtes teilen uns mit, wie herzinnig ihr Ausruf gemeint kann; man vermag es zu fühlen, wie sehr sie die Traubem und Äpfel des Lebens, die die Frau des Wappens hochhält, schätzt:

O Herz! O Frucht! O Zeit! O Wille!
Wie lieblich seid ihr hergereift!


Möge auch uns eine solche Wertschätzung möglich sein! 

Keine Kommentare: