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Freitag, 13. Dezember 2019

"... und legte an alles den Maßstab der Ewigkeit"

"... am letzten Sonntag war ich so "durchgedreht", daß ich nachmittags, nach Zimmerreinigung und Strümpfewaschen, etwas tat, was ich mir schon lange nicht mehr erlaubte: nämlich gar nichts. Ich machte es wie in Finkenkrug so oft, setzte mich aufs Sofa und knipste das Licht aus. Und sann im Dunkel ... Und legte - wozu ich im Hellen viel seltener komme- an alle Dinge, alles Geschehen den Maßstab der Ewigkeit ... und vieles von dem, was uns wichtig dünkt, uns einzig beschäftigt, unsere eigenen werten Personen mit inbegriffen, das sank zusammen ..."

Finkenkrug war das Haus, das Gertrud Kolmars Vater als Jude 1938 zwangsverkaufen musste, um dann mit seiner Tochter in ein sogenanntes Judenhaus zu ziehen. Aus diesem heraus schrieb Gertrud Kolmar Briefe - obigen am 18. November 1942 -, die mit zum Bedenkenswertesten zählen, was unsere Kultur an brieflicher Überlieferung bietet. Sie nahm auf eine Weise ihr Schicksal an, wie das nur große Seelen können; sie sah voraus, was ihr Anfang März 1943 in Auschwitz widerfahren würde.
Was ich mich frage: Wieviele Menschen verstehen heute noch, was sie mit dem Maßstab der Ewigkeit meint . . . Bleibt zu hoffen, dass es nicht wieder Leid wird sein müssen, das zum Bewusstsein dieses Maßstabes führt ... manchmal kommt es mir so vor, als ob es auch diesmal keinen anderen Weg wird geben können ...
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