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Samstag, 8. August 2020

Aus der Mühle ständigen, viralen Zugemüllt-Werdens hin zu Hölderlin und seinem Bewusstsein:

 

Hölderlin, aus einem Entwurf zur Vorrede des „Hyperion“:

Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn, und es ist kein anderer Weg möglich von der Kindheit zur Vollendung. 
Die selige Einigkeit, das Sein, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen ἓν ϰαὶ πᾶν [hen kai pan] der Welt, um es herzustellen, durch uns selbst. Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jetzt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten. Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts, oft aber auch, als wären wir Alles und die Welt Nichts. Auch Hyperion teilte sich unter diese beiden Extreme.
Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen, zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all unseres Strebens, wir mögen uns darüber verstehen oder nicht.
Aber weder unser Wissen noch unser Handeln gelangt in irgendeiner Periode des Daseins dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist: die bestimmte Linie vereinigt sich mit der unbestimmten nur in unendlicher Annäherung.
Hölderlin war sich der Schwere seines Weges, der, wie er schreibt, der Weg aller ist, bewusst.
Die große Ernsthaftigkeit dieses Mannes, der sich selbst als Sehenden bezeichnet, wird deutlich, wenn er von dem „Gott in uns“ spricht und ihn auch als den ´ungenannten´ oder auch ´neuen´ Gott bezeichnet und in dem Thalia-Fragment des „Hyperion“ weiß:

Ach! der Gott in uns ist immer einsam und arm. Wo findet er alle seine Verwandten? Die einst da waren und da sein werden? Wann kömmt das große Wiedersehen der Geister? Denn einmal waren wir doch, wie ich glaube, alle beisammen.
Für Hölderlin geht echte Gemeinschaft aus Sammlung, aus Einsamkeit hervor und aus ihr heraus findet sich der Weg zu jenen Anderen, die auch aus dieser Einsamkeit kommen.
In unserem Suchen kommen wir alle an jenen Punkt auf der exzentrischen Bahn, wo wir mit dem Dichter uns bewusst werden:
Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles.
Es ist der Weg des Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.
Wenn sich Menschen zunehmend diesem Bewusstsein zuwenden, dann kann wahr werden, was Hyperion an seinen Freund Bellarmin so formuliert:

Es werde von Grund aus anders! Aus der Wurzel der Menschheit sprosse die neue Welt! Eine neue Gottheit walte über ihnen, eine neue Zukunft kläre vor ihnen sich auf. In der Werkstatt, in den Häusern, in den Versammlungen, in den Tempeln, überall werd’ es anders!
Deshalb genau leben wir in dieser, unserer Zeit!

Und es ist Obiges, was wir im Herzen bewegen und anstelle viraler Worte weitertragen mögen.

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* Die Formel des Hen kai pan [wörtlich ´eins und alles´] findet sich zuerst bei Heraklit („Aus allem eins und aus einem alles“), später auch bei Giordano Bruno, Schelling und anderen (man sollte sie nicht pantheistisch verstehen).
** Kurz gefasst ist die exzentrische Bahn bei Hölderlin jene, die uns aus dem ursprünglichen Zustand des Einsseins wieder zurückführt, nachdem wir Alles erlebt haben (mehr zu ihr hier https://bit.ly/33CrEvu)

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