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Samstag, 22. Januar 2011

"Die Gedanken sind frei" - als Flugblattlied entstanden, heute fast ein Volkslied, suggeriert es einen dramatischen Selbstbetrug

Kürzlich hörte ich Gottfried Fischer, den Begründer der Fischer-Chöre, dieses Lied intonieren, und es war weit weniger der Qualität seiner Stimme als der Inbrunst seiner vorausgehenden Worte anzumerken, wie sehr es ihm gefällt.
Und keine Frage: Als das Lied wenige Jahre vor der Französischen Revolution entstand und auf einem Flugblatt veröffentlicht wurde, wirkte es wie ein Fanal; ja, wenn die Herrschenden, die politische Nomenklatura gekonnt hätte, hätte sie sogar auf die Gedanken ihrer Untertanen Einfluss genommen. Wie gut, dass das nicht ging.
Und wie wertvoll mag das Lied gewesen sein, als Sophie Scholl es ihrem Vater, der wegen hitlerkritischer Äußerungen verhaftet worden war, noch am Abend seiner Verhaftung auf ihrer Flöte an der Gefängnismauer vorspielte! Das geschah 1942.
Und welches Gänsehautgefühl muss es gewesen sein, als 1948 auf dem Höhepunkt der Berlin-Blockade sich 300 000 Berliner vor der Ruine des Reichstagsgebäudes versammelt hatten, Ernst Reuter seine Bitte an die Völker der Welt richtete, Berlin nicht preizugeben, und einer dieses Lied anstimmte und immer mehr mit einstimmten und mit ihrer Stimme einen gewaltigen Chor bildeten, der mehr und mehr anschwoll und wie ein gewaltiges Signal zum Himmel strebte:

Die Gedanken sind frei
Wer kann sie erraten?
Sie rauschen vorbei
Wie nächtliche Schatten,
Kein Mensch kann sie wissen,
Kein Jäger sie schießen;
Es bleibet dabei,
Die Gedanken sind frei.

Ja, Gedanken können Mauern zerreißen, wie wir in der 3. Strophe lesen; sie gehen durch Mauern, durch jeden Stahlbeton. Sie sind ein großes Freiheitspotential.

Das ist ihre eine Seite. Und das ist keine Schattenseite.
Doch haben Gedanken eine Schattenseite, und es ist fatal, wenn man sie nicht zur Kenntnis nimmt, denn:
In der Hauptsache - so behaupte ich - sind Gedanken nicht frei!
In der Liedfassung von 1800 lautet der Beginn der 4. Strophe:
Ich denk was ich will / und was mich erquicket ...
Genau so ist es nicht. Dann wären alle Menschen viel, viel gesünder und wir bräuchten nicht ständig eine Gesundheitsreform.
Denn es sind ihre Gedanken, die die Menschen krank machen und zu körperlichen Krankheiten führen - wenn auch mit erheblicher Zeitverzögerung -, auch wenn das die meisten Menschen nicht wahrhaben wollen; dann wären sie ja selbstverantwortlich womöglich für das meiste, was ihnen geschieht; dann glaubt man schon lieber an das Schicksal, an die Erbsünde oder andere pseudoreligiöse Lügen.
Nein, wir wissen im Grunde genau: Jeder Ort, an dem wir sind, beeinflusst unsere Gedanken. Ein Schüler in der Schulbank hat andere Gedanken als vor dem Computer, hat andere Gedanken als beim Handballtraining oder vor dem Fernseher.
Wir wissen, wie es ist, wenn Gedanken sich im Kreise drehen, wenn wir uns manchmal mit ihnen wie im Hamsterrad bewegen, wenn wir genau wissen, dass uns unser momentanes Denken nicht gut tut.
Als Lehrer kann ich mich gedanklich mit der negativen Seite eines Schülers beschäftigen oder ihm gedanklich einen Weg bahnen, den ich ihm wünsche.
Wünsche ich ihn ihm? Warum ist das schwerer, als ihn einfach zu verurteilen?
Urteile bestehen aus Gedanken, Wünsche bestehen aus Gedanken.

Ja, so ist es: Auch technische Geräte beinflussen unsere Gedanken unglaublich. Wie viel Wirklichkeit gestaltet ein IPod oder eine Spielekonsole.
Und dann haben wir noch nicht darüber gesprochen, wie sehr die Anwesenheit eines Menschen - allein seine Anwesenheit, auch wenn er kein Wort sagt - unser Denken beeinflusst.
Meine Güte, was für sein Selbstbetrug, die Annahme, unsere Gedanken könnten frei sein.
Was aber Gott sei Dank gilt:
Es gibt Wege, unsere Gedanken zu befreien.
Der Achtfache Pfad Buddhas weist ihn und Werke von Wissenden wie Masaharu Taniguchi und James Allen; ich habe über alle drei an anderer Stelle geschrieben.

Befreien wir uns von diesem Gedanken: Die Gedanken sind frei.
Unsere Gedanken sind in jener Höhle, von der Platon schreibt.
Nur wenn wir die Realität unserer Gedankenwelt zur Kenntnis nehmen, ihrer Realität mehr und mehr gewahr werden, dann kann Gedankenfreiheit Wahrheit werden. Ansonsten bleibt sie eine schöne Illusion.



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