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Dienstag, 27. August 2019

"Einmal wandelt Läuten durch mich hin" - Gertrud Kolmar, unterwegs in ihre Heimat und zu ihrer Schwesterseele!

Liest jemand an heißen Spätsommertagen Gedichte?

Eher nicht.

Aber es drängt mich, dieses Gedicht von Gertrud Kolmar dennoch zu veröffentlichen und jemandem, der doch liest, mitzuteilen. Es ist eines meiner Lieblingsgedichte von ihr; sie schrieb es in jenem poetisch für sie so fruchtbaren Jahr 1917, dreiundzwanzigjährig, und es deutet sich ihre Tiefe, die sie später u.a. in ihren Wappengedichten und dem Zyklus Welten uns zeigt, mehr als nur an. Sie weiß um eine Zeit, in der wir einmal wieder reine Seele sein werden mit all den Erfahrungen, die uns jetzt ereilen und die wir den himmlischen Mitbewohnern, die uns auf unserer Reise über die Erde so aufmerksam verfolgen, spürend, wie schwer erkauft unsere Erfahrungen oft sind, aber zugleich uns bewundernd und teilnehmen wollend, weil sie ihnen nicht vergönnt waren, seien sie Cherubim, Seraphim, Throne, Erzengel, Engel. dann mitbringen werden.

Gertrud Kolmar weiß um das Es war einmal der Märchen, das auf jene Zeit anspielt, als wir aufbrachen, und sie wiederholt diese magische Formel in ihrem ersten Wort und verwandelt in und mit ihm die Vergangenheit zugleich in eine uns erwartende Zukunft.

Sie weiß darum, dass wir eine sozusagen vertikale Schwesterseele haben - die Germanen und die nordischen Mythen nannten sie Walküren - die in ewigen Regionen sich aufhält, um unseren Weg abzusichern, weswegen sie als unverlierbarer Teil von uns, als wir abstiegen, zurückblieb.

Sie weiß auch um etwas, was wir Schwesterseele auf einer horizontalen Ebene nennen könnten, jener Teil, von dem wir uns trennten - die Bibel bezieht sich mit jener Stelle darauf, als Gott aus der Rippe Adams (was bekanntlich Mensch, nicht Mann bedeutet) die Frau erschuf -, um wirklich zu erfahren, was Liebe sei, Liebe, die wir sehnsüchtig in dem verlorenen Teil suchen und so oft nicht finden und deshalb erst wirklich wertschätzen lernen. 
In unseren Erdenwanderungszeiten begegnen wir in unseren vielen Leben ingesamt zwölfmal unserer Schwesternseele, so habe ich gelesen und halte es für durchaus der Wahrheit entsprechend, und wir können so oft nachlesen, dass solche Begegnungen leider auch sehr unglücklich ausgehen können - Shakespeare hat es in Romeo und Julia abgebildet, die Volkslieder in jenem Lied von den Königskindern, Schiller in Reminiszenz, Ödon von Horvath in seinem Schaupiel Das jüngste Gericht, Marc Levy in Sieben Tage für die Ewigkeit, das Nibelungenlied in der unerfüllten Liebe Brünhildes zu ihrem wahren Mann Siegfried - die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen; selbst Nietzsche spricht in Also sprach Zarathustra von ihr: Hast du nicht die Schwester-Seele zu meiner Einsicht? Zusammen lernten wir alles; zusammen lernten wir über uns zu uns selber aufsteigen und wolkenlos lächeln . . .

Woher weiß die junge Gertrud Kolmar darum? Ich vermute, dass das in ihrer Familie gelebte Judentum dieses Wissen nicht unbedingt zuließ, vielleicht aber die Kabbala, zu der sie womöglich Zugang besaß - darüber habe ich aber keine Informationen.
Hier nun dieses wunderschöne Gedicht: 

Einmal
 
Einmal wandelt Läuten durch mich hin,
Seelensingen - eine Glocke tönt,
Glocke, der ich reines Echo bin,
Nicht mehr Fleisch, das sündig jauchzt und stöhnt.

Bin ein Sprößling dann des grünen Baums,
Sinnbild ew'gen Werdens, ew'ger Rast,
Und mein Leib, der Rest des Menschentraums,
Steht und wartet, daß er Wurzel faßt.

Einmal bist du Trug, mein Leib, mein Stamm,
Der du heute noch mir Wahrheit heißt,
Einmal bist du tot, bist Erde, Schlamm,
Doch ich leb', ein Nichts, ein Alles: Geist.

Bald!

Denn schon hör' ich, wenn den bitt'ren Tag versüßt
Irgendwo mir eine Vogelkehle,
Liebe, ferne Stimme, die mich lautlos grüßt:
»Schwesterseele!«

Donnerstag, 15. August 2019

Mutterschaft als Seelenweg: Gertrud Kolmars "Wappen von Juliusburg"

 

Wappen von Juliusburg

In Rot über silberner Burg ein golden
beschwingtes Engelsköpfchen.

Dein Kind ist's, Mutter! Und dein Herz laß klopfen,
Und scheuch' ihm ersten Schlaf mit seinem Schlag,
Wirf ihm ins Haupt den scharlachroten Tropfen,
Erzwing' die Leuchte seinem Lebenstag!
Stürz' deine Kniee auf die Silberstufen,
Die himmelan in steilen Türmen gehn.
Dein Auge zittre! Gott, den du gerufen,
Er reißt dich auf und läßt in dir sich sehn.

Die Hände leer! Kein Nehmen mehr und Schenken;
Denn was dir kommt, das will dich arm und scheu.
An deinem Bett kein Brau'n von Liebestränken
Noch Bettlergreinen kraftlos dürft'ger Reu',
Kein Denken, scharrend gleich geschäft'gen Hennen,
Das ängstlich sich um kleine Speise müht:
Nackt sei dein Leib und innig dein Erkennen
Der Lust, die funkelt, und der Qual, die glüht.

Heut bist du ewig, weise und erhaben,
In dir ist sel'ge Wahrheit ausgesagt,
Für dich hast du das Rätselspiel begraben,
Das vor des Todes Unbedingtsein zagt.
Die Wände zucken blau und voll Kometen,
Das Fenster flammt. Zum Berge wächst das Spind
Und neigt sich fromm dem Säugling des Propheten,
Um dessen Wiege Leu und Otter sind.


Vom Herbst 1927 an schrieb Gertrud Kolmar (1894-1943) an ihrem Zyklus "Das Preußische Wappenbuch". – Die Firma Kaffee Hag hatte Werbemarken herausgegeben, die seit 1913 in deutschen Haushalten stark verbreitet waren. Gertrud Kolmar nahm sie zum Anlass, einen Gedichtzyklus mit 53 Gedichten entsprechend der Anzahl der Wappen zu schreiben. Die Gedichte nehmen die Pictura auf (die Autorin beschreibt kurz mit eigenen Worten die Darstellung der Wappen), gestalten aber sehr oft einen persönlichen Inhalt mit eigenwilligen Mythen und Bildern und einer oft auch eigenwilligen Wortwahl. - Das ´Preußische Wappenbuch´ zeigt die Dichterin auf dem Weg zu einer der Großen ihrer Zunft, die in Deutschland in Vergessenheit geriet. Reclams Dichterlexikon kennt sie ebenso wenig wie die bekannte Gedichtanthologie echtermeyer/wiese.

Eines dieser Wappengedichte zeigt, wie so oft bei Gertrud Kolmar, ein Kind im Mittelpunkt, ihr Kind, das sie auf Betreiben der Eltern abtreiben musste und das sie ein Leben lang begleiten wird. Selten wird so deutlich wie bei dieser Frau, wie folgenreich eine Abtreibung sein kann, weil man einen so wertvollen Teil von sich verliert. – Gertrud Kolmar spricht eine Mutter an, die sie doch so gern selbst gewesen wäre. Dies wissend, ahnt man, wie sehr ihr diese Verse aus dem Herzen kommen und dass die Sprach- und Glaubensmacht der letzten Strophe kein Zufall ist. Sie bezieht sich auf die prophetischen Worte Jesajas (11, 6-9):

„Da wird ein kleiner Knabe Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen; und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.”

Diese Christusvision möge sich erfüllen, auch wenn diese wunderbare Frau und deutsche Jüdin in Auschwitz sterben musste.

Samstag, 10. August 2019

Warum Glaube unersetzlich ist? - Glauben ist dem Wissen immer einen Schritt voraus. – Glaube ist mehr als Sehnsucht. - Nur wer glaubt, kann lieben.

Wir leben in einer Zeit, in der manche Menschen immer bewusster leben. Bewusst zu leben, bewusst zu sein aber bedeutet, zum Wissen gelangen zu wollen. Wer sich etwas bewusst ist, der weiß. Von daher dachte ich für mich, dass das Wort des Paulus, den ich ansonsten sehr schätze, sich zu überholen beginnt, dass Glaube, Liebe und Hoffnung eine unersetzliche Trinitität für unser Leben sei.

Bis ich verstanden habe, was Glaube eigentlich ist.
Es ist der Glaube, der uns von Wissen zu Wissen zieht; jedes Wissen ist ja nur eine Etappe, eine Stufe. Wissen ist immer Stückwerk. Was wir als Wissen bezeichnen, ist immer nur ein Puzzleteil.
Wer keinen Glauben hat, erstarrt.

Wir kennen Menschen, die vermitteln, sie wüssten alles. Es gibt einige Wissenschaftler und Philosophen, die mir da spontan einfallen, natürlich auch nicht wenige Politiker. Zwar würden sie auf die Frage, ob sie alles oder viel wissen, immer ganz bescheiden sagen, dass sie sich natürlich dessen bewusst sind, dass … blablabla … , aber wenn man sie dann in Diskussionsrunden beobachtet, erlebt man, dass sie fast beleidigt reagieren, wenn jemand das, was sie sagen, anzweifelt, oder sie rücken, was sie sagen immer so zurecht, dass niemand auf die Idee kommen sollte, ihnen zu unterstellen, sie wüssten etwas nicht.
Das sind im  Grunde erstarrte Existenzen, oft eitel bis zum Geht-nicht-mehr.
Bei manchen gehört mittlerweile das Zugeben, etwas nicht zu wissen, zu einer Strategie, die vermitteln will, dass sie im Grunde doch alles wissen.

Mir ist auch bewusst geworden, warum mir das Christentum in seiner ursprünglichen Form, wie es die Evangelien vermitteln, so sympathisch ist, denn es ist nach dem Sohn benannt. Ein Sohn bedeutet immer Entwicklung. Das väterliche Bewusstsein ändert sich immer durch das Bewusstsein des Sohnes. Der christliche Gott ist eben kein Allah - deshalb finde ich es einfach nur falsch, wenn manche Leute sagen, dass es einerlei sei, ob man Gott oder Allah oder Brahman sage. Es ist eben nicht einerlei, denn Allah ist ein monolithischer unbeweglicher Block, der nicht von ungefähr unter Strafe gestellt hat, ihm einen Sohn zu unterstellen. In Allah ist nicht die Spur von Bewegung.
Der ein oder andere mag sagen, auch ein Muslim glaube.
Im christlichen Sinne aber glaubt er nicht, denn der christliche Glaube ist untrennbar mit der Bewegung des Sohnes verbunden.
(Ich muss bitte nicht schon wieder betonen, dass ich nichts gegen Muslime als Menschen habe . . .; aber ich erlaube mir zu betonen, dass ihr Glaube ein starrer ist; der Koran lässt daran keinen Zweifel. Und ich bedaure nach wie vor, dass die Christlichen Kirchen sich nie zu der besonderen Qualität ihres Glaubens bekannt und dafür gekämpft haben - heute denke ich, dass sie sich dieser Qualität nicht bewusst sind; vielleicht sind sie aber auch einfach total feige.)

Was Bewegung in unser Leben bringt, ist der Glaube.

Alle, die versucht haben, Glaubensbekenntnisse in Dogmen festzuzurren, haben das Wesen des Glaubens nicht verstanden.

Warum man nicht Glauben durch Sehnsucht ersetzen kann?

Sehnsucht ist eine Sucht - unsere Sprache ist da sehr klar und unmissverständlich. Und sie erklärt sich daraus, dass mit diesem Sehnen etwas Unbestimmtes verbunden ist, etwas, was einen irgendwo hinzieht. Wer Sehnsucht hat, gibt sich nicht von ungefähr gern auch einem diffusen Gefühl hin. Da erklingt das Posthorn, und bei Eichendorff springt zwar dann der Mensch im Fensterrahmen doch nicht aus selbigem, aber es zerreißt ihm schier das Herz - warum genau, das weiß er nicht - Sehnsucht halt, Ferne, Weite, ein Liebchen . . . (wobei in der ernsthaften Romantik sehr viel Wertvolles sich verbirgt).

Der Mensch, der glaubt, weiß, dass sein Sehnen - nicht seine Sehnsucht - verursacht ist durch einen Mangelzustand, den er sich zugesteht und sich seiner nicht schämt. Man muss diesen Zustand auch nicht als Mangel sehen, denn er gehört zu uns Menschen wie das halbleere Glas. Wir aber haben auch Fülle.

Glaube ist Voraussetzung für Liebe. Liebe bewegt und bewegt sich.

Eigentlich ist es so: nur wer glaubt, kann lieben.
Wenn er an sich selbst glaubt, kann er sich lieben.
Wenn er an den Anderen glaubt, kann er ihn als Nächsten lieben.

Donnerstag, 8. August 2019

Ist das Bewusstsein der Menschen aktuell so viel anders als 1933? - Gertrud Kolmars ""Die hier umhergehn sind nur Leiber / Und haben keine Seele mehr"!

Zeilen wie die der zweiten und vierten Strophe findet man in der deutschen Lyrik selten: Ohren, die nicht mehr hören, Körper ohne Seelen und Menschen, die wie Schlachtvieh auf den Metzger warten - das ist kaum mehr überbietbar. 

Das Üble ist nur, wenn man die Realität unserer Tage anschaut: die Mehrheit der Menschen hat nichts dazugelernt; die offensichtliche Wirklichkeit wird weiterhin nicht ernst genommen; allein die Berichte aus den Lagern von Syrien und Griechenland sind eigentlich unsäglich. 
In den letzten Zeilen ihres Gedichtes Im Lager spielt Gertrud Kolmar auf Jesus an und diese bitteren Zeilen sind wohl ziemlich sicher zurückzuführen auf die Kollaboration der Kirchen mit den Nationalsozialisten:

Die hier umhergehn, sind nur Leiber
Und haben keine Seele mehr,
Sind Namen nur im Buch der Schreiber,
Gefangne: Männer. Knaben. Weiber.
Und ihre Augen starren leer (schwer)
Mit bröckelndem, fallnem Schauen
Auf Stunden, da in düstrem Loch
Gewürgt, zertrampelt, blindgehauen
Ihr Qualgeächz, ihr Wahnsinnsgrauen,
Ein Tier, auf Händ und Füßen kroch . . .
Sie tragen Ohren noch und hören
Doch nimmermehr den eignen Schrei.
Die Kerker drücken ein, zerstören:
Kein Herz, kein Herz mehr zum Empören!
Der feine Wecker schrillt entzwei.
Sie mühn sich blöde, grau, entartet,
Von buntem Menschensein getrennt,
Stehn, abgestempelt und zerschartet,
Wie Schlachtvieh auf den Metzger wartet
Und dumpf noch Trog und Hürde kennt.
Nur Angst, nur Schauder in den Mienen,
Wenn nachts ein Schuß das Opfer greift . . .
Und keinem ist der Mann erschienen,
Der schweigend mitten unter ihnen
Ein kahles Kreuz zur Richtstatt schleift. –
(ausführlicher hier: https://bit.ly/2YKgFOA)

Dienstag, 6. August 2019

Eine tief verletzte Mutter, Gertrud Kolmar: ... weil deine Augen vor mir zugefallen, / Dass du mich nicht mehr siehst.

"Du gehst" ist eines jener Gedichte, das den Tod ihres Kindes, das nie leben durfte, verarbeitet.
Gertrud Kolmar starb auf dem Weg oder unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz.
Leider ist diese Frau so unbekannt geblieben . . . dabei sind ihre Gedichte unvergesslich . . .

Du gehst die Treppen, gehst hinab, mein Knabe,
Durch Holz und Stein und Kalk.
Ich bleibe tief in Nächten, meinem Grabe,
Und möchte wie der dumpfe Schwalk
Verschwimmend fern im Schattenmeer ertrinken,
Ein fahler Vogelgeist,
Daß über dich die großen Flügel sinken,
Von denen du nichts weißt.

Doch spür' ich, meine Füße sind gekettet,
Weil du entfliehen mußt,
Kein wehes Wort, kein armer Blick dich rettet
Vor jenes Weibes nackter Brust,
Die Sphinx dich hält mit blutgefärbten Krallen,
Der Tierleib, dem du kniest,
Weil deine Augen vor mir zugefallen,
Daß du mich nicht mehr siehst.

Ich hab' dir meine weiße Milch gegeben;
Du wärest schwach und klein.
Nun bin ich falb. Gemalte Lippen schweben
Wie Falter um den bunten Wein,
Nun ward dein junger Schlaf mir fortgetragen
Und meiner Hand dein Haar,
Weil stumm die Flamme in dir aufgeschlagen,
Die dich aus mir gebar.

Ich kann ins Dunkel schweigen diese Wunde:
Kein Schelten noch Geklag.
Und nur die weiche Schwärze später Stunde
Will ich hinnehmen an den Tag,
Mit Trauer zu verhüllen meine Herbe
Und weil ich ohne Schrei
Zuweilen, wenn du schwärmtest, einsam sterbe,
Auf daß dein Leben fröhlich sei . . .

mehr von ihr: hier