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Sonntag, 29. Januar 2023

MORALISCHE GERÜCHE und GERÜCHE DER HEILIGKEIT

Jacques Lusseyrans „Das wiedergefundene Licht“ ist ein wahres Compendium, wenn es um die Spiritualität von Sinneseindrücken geht. Fast möchte man denken, nur ein Blinder könne so intensiv die Geistigkeit der Sinne wahrnehmen.

Gerade hatte er noch von dem, was das Tasten in seinem Inneren auslöste, erzählt, da wendet er sich in der Erinnerung an seine Jugend dem Geruchssinn zu und schreibt über jene Phase als Kind kurz nach seiner Erblindung:

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„Wie mit den Tastsinn verhielt es sich auch mit dem Geruch. Wie der Tastsinn war auch er offensichtlich ein Teil des liebenden Alls des Universums. Ich begann zu erraten, was Tiere empfinden müssen, wenn sie in die Luft schnuppern. Wie die Töne und Formen war auch der Geruch sehr viel ausgeprägter, als ich zuvor angenommen hatte. Es gab physische Gerüche, und es gab moralische Gerüche, doch von diesen – im Leben der Gesellschaft so wichtigen – will ich später reden (…) oh, alle Töne, alle Gerüche, alle Formen wandelten sich in mir unaufhörlich in Licht, das Licht wurde zu Farben und machte meine Blindheit zu einem Kaleidoskop.“

Das Thema der Gerüche greift er wieder auf, als er von der Schule erzählt:
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„Ich langweilte mich im Gymnasium, langweilte mich fast ohne Unterbrechung (…) War einmal die Klassentüre geschlossen, stieg mir der Geruch des Raumes in den Kopf. Nicht, dass einer meiner Klassenkameraden schlecht gepflegt gewesen wäre, doch jeder von ihnen besaß einen Körper, und vierzig Körper in einem so kleinen Raum – das war zuviel. Man hätte sich am Rand eines stehenden Sumpfwassers glauben können. Wie kam das?
Ich erwähnte bereits, dass es für einen Blinden so etwas wie moralische Gerüche gibt, und ich glaube wohl, dies war hier der Fall. Ist eine Gruppe von Menschen gezwungen – oder gesellschaftlich verpflichtet, was aufs selbe herauskommt –, sich in einem Raum aufzuhalten, so wird sie alsbald einen schlechten Geruch entfalten. Man möge das wörtlich auffassen. Bei Kindern vollzieht sich dieser Prozess noch schneller. Man denke nur an die ganze Masse unterdrückten Ärgers, gedemütigten Unabhängigkeitsdrangs, zurückgehaltener Vagabundierlust und ohnmächtiger Wissbegierde, die vierzig Buben zwischen zehn und vierzehn Jahren ansammeln können!
Hier war also die Quelle des unliebsamen Geruchs und des Dunstes, mit denen die Klasse für mich physisch angefüllt war. Was ich sah, war trübe, die Farben wurden fade, ja schmutzig. Die Tafel war schwarz, der Fußboden war schwarz, die Tische waren schwarz, die Bücher waren schwarz. Selbst der Lehrer, der im Licht stand, war nicht mehr als grau. Er hätte sich doch abheben müssen, nicht allein durch sein Wissen (Wissen enthielt damals für mich wenig Licht), sondern auch durch seine Person.
Langeweile band und knebelte alle meine Sinne. Selbst die Töne verloren im Unterricht an Umfang und Tiefe, wurden kraftlos.“

Es ist schon zu lange her, dass ich dieses wunderbare Buch gelesen habe, in dessen Mittelpunkt vor allem Jacqes Lusseyrans Zeit im französischen Widerstand steht, in der er als Mitglied einer Widerstandsgruppe u.a. die Aufgabe übernommen hatte, Menschen, die aufgenommen werden wollten, aufgrund seines besonderen Wahrnehmungsvermögens zu überprüfen. Deshalb weiß ich es nicht mehr genau, aber ich glaube, von Gerüchen der Heiligkeit hat er nie gesprochen. Es ist mir aber unvergessen, dass ich von ihnen in Michael Murphys „Der Quantenmensch. Ein Blick in die Entfaltung des menschlichen Potentials im 21. Jahrhundert“ las. Dort heißt es:
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„Seit den ersten Jahrhunderten der Geschichte des Christentums wurde behauptet, dass die Körper einiger Märtyrer und Heiliger einen außergewöhnlichen Geruch ausströmen. Es heißt, dass der heilige Polikarp, der im Jahr 155 den Märtyrertod starb, der heilige Simeon Stylites, ein Säulenheiliger des 5. Jahrhunderts, und der heilige Guthlac, ein angelsächsischer Einsiedler, so wie andere bemerkenswerte Persönlichkeiten des frühen Christentums die Luft mit lieblichen Düften und zu Zeiten ganze Gebäude mit dem Geruch von Weihrauch erfüllten. Die heilige Theresia von Avila, die vielen religiösen Behauptungen gegenüber kritisch eingestellt war, war überzeugt, dass eine heilige Lebensführung den Geruch der Heiligkeit hervorbringen könnte. In ihrem „Buch der Klosterstiftungen“ schilderte sie eine berühmte spanische Asketin, Catalina von Cardona. Sie schrieb, dass
„von ihr ein überaus durchdringender Wohlgeruch, ähnlich dem Geruch der Reliquien, ausgegangen sei. Nachdem sie ihren Habit und Gürtel abgelegt hatte – man schenkte ihr nämlich einen anderen Habit und Gürtel –, strömten selbst diese abgelegten Kleidungsstücke einen (wunderbaren) Wohlgeruch aus, so dass die Schwestern veranlasst wurden, unseren Herrn zu lobpreisen. Je näher man ihr kam, desto durchdringer war dieser Geruch, während doch ihre Kleider, zumal bei der damaligen großen Hitze, eher eine gegenteilige Wirkung hätten hervorbringen sollen.
Es werden in der Folge noch das ein oder andere Beispiel und Nonnen erwähnt, bei denen man diese Gerüche der Heiligkeit wahrnahm. „In neuerer Zeit wurde von Pater Pio erzählt, dass er um Menschen herum, die ihn gesehen oder berührt hatten, geheimnisvolle Wohlgerüche hervorrief.“

Herbert Thurston (1856-1939), ein englicher Priester und Jesuit, der in seinen Artikeln zu obigen Phänomenen eine eher skeptische Haltung einnahm, schrieb:
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„Gewiss mag manches in dieser oder jener Schilderung durch die glühende Phantasie des Erzählers übertrieben worden sein, denn starke Gefühle schwingen in diesen Beschreibungen mit. Aber die Übereinstimmung unter Zeugnissen, die örtlich und zeitlich so weit auseinanderliegen, ist höchst bemerkenswert, und nicht zuletzt kommt dazu die Gleichgestimmtheit von Zeugnissen sehr ähnlicher Art aus den letzten Jahrhunderten. Das lässt sich nicht übersehen…, erhält aber noch eine gewisse Bestätigung von einer ganz anderen Seite her; ich denke an das Auftreten ähnlicher Phänomene bei spiritistischen Sitzungen.“
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Ich persönlich halte ein Phänomen wie Gerüche der Heiligkeit für realistisch, allein schon deshalb, weil es auch genügend Menschen gibt, die ganz gegenteilige Gerüche verbreiten.
Wenn allerdings Thurston auf vergleichbare Phänomene bei spiritistischen Sitzungen hinweist, dann ist für mich das auf dem Hintergrund der Tatsache, dass ich spiritistischen Sitzungen - Rilke war ja bekanntlich ein Fan von ihnen, was ihm gewiss nicht gutgetan hat - absolut ablehnend gegenüberstehe, weil man nie weiß, welches seelische Wesen am anderen Ende ist (auch wenn es einen Namen kundtut) und man durchaus seelisch sehr Unangenehmes auf diesem Weg einfangen kann, - dann ist das also deshalb interessant, weil es gewiss auch pseudoheilige Düfte gibt, Düfte also, die verschleiern, dass in Wahrheit ganz anderes transportiert wird.
Ich bringe deshalb solchen Berichten eine gewisse Skepsis entgegen und halte es für sehr sinnvoll, sie erst einmal auf den Prüfstand zu stellen.

PS Meine Ablehnung spiritistischer Sitzungen bezieht sich nicht unbedingt auf mediale Trancesitzungen. Allerdings enstpricht Trance - Ausnahmen mögen die Regel bestätigen - nicht mehr einem Bewusstseinszustand, der spirituell aufgeschlossene Menschen in unserer Zeit wirklich vorwärtsbringt, ganz davon abgesehen, dass ich Channelings auf Medien wie You Tube zu annähernd 100 Prozent für frei erfunden halte.

PPS Diesem Post ging auf Facebook ein Beitrag zu dieser Thematik voraus, den ich hier für Inteessierte veröffentliche: https://bit.ly/3ReaDyi

Dienstag, 24. Januar 2023

Spirituelle Stolpersteine: Gefahren selbstverliebter Euphorie und Ekstase

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Es ist ja ein bekanntes Phänomen in der spirituellen Entwicklung von Menschen, dass sie manche Themen und Personen in den Himmel heben zuungunsten einer realistischen Sicht auf unsere und die Wirklichkeit der geistigen Welt und das Innere von Menschen. Meistens hat das ja sein Gründe in der Person selbst, die sich damit herummogelt, Dinge, die sie anschauen sollte, nicht ansehen zu müssen - das, was man gerade anschaut, ist doch auch so herrlich, ach so wegweisend (leider oft in Richtung eines spirituellen Abstellgleises).
Rudolf Steiner spricht das unter dem Stichwort der ´Ekstase´ und einer falschen Mystik an.
In der Ekstase verliert ja der Mensch sein Ich, verliert sich in makrokosmischen Gefilden, vernachlässigt sein klar-geistiges Denken und einen realistischen Blick auf seine Gefühle, der ja notwendig ist, denn durch euphorisch-ekstatische Gefühle können uns gewisse Wesenheiten manipulieren - und meistens ist dies auch der Fall:
Durch die Ekstase werden die geistigen Tatsachen nicht in ihrer Ganzheit, nicht in ihrer Totalität erfaßt, sondern nur in dem, was der eigenen Seele wohltut und frommt, was sie geistig verzehren kann. Im Grunde genommen ist es ein Verzehren geistiger Substantialität, was sich durch die Ekstase im Menschen ausbildet. Und ebensowenig, wie man die Dinge dieser Sinneswelt in ihrem inneren Wesen dadurch erkennt, daß man sie ißt, ebensowenig erkennt man die Kräfte und Wesenheiten der geistigen Welt dadurch, daß man sich in Ekstase begibt, um nur das eigene Selbst zu durchglühen mit dem, was einem wohltut. Man lebt nur in einem gesteigerten Selbstsinn, in einer gesteigerten Selbstliebe, und weil man aus der geistigen Welt nur das hereinnimmt, was man geistig verzehren kann, macht man sich dessen verlustig, was man nicht so behandeln kann, was außer dem durch die Ekstase zu Genießenden steht. Das ist aber der größte Teil der geistigen Welt. Dadurch verarmt nun der in der Ekstase stehende Mystiker immer mehr und mehr. (GA 62, S. 405)
Viele Mystiker sind eigentlich nichts anderes als geistige Feinschmecker, und die übrige geistige Welt, die ihnen nicht schmeckt, ist nicht für sie da. So sehen wir, wie der Geistesforscher die beiden Extreme vermeiden muß [Steiner bezieht sich hier auf der einen Seite auf die Selbstliebe, auf der anderen Seite auf die Ekstase], die ihm alle möglichen Quellen des Irrtums in den Weg bringen (...) In einem noch viel höheren Maße als gewöhnlich ist für den Geistesforscher notwendig ein gesunder Tatsachensinn, ein echtes Gefühl für Wahrhaftigkeit. Alle Schwärmerei, alle Ungenauigkeit, die so leicht über das hinweghuscht, was wirklich ist, ist beim Geistesforscher von Übel. (GA 62, S. 406)

Das ist der Grund, warum das Denken eine göttliche Gabe ist und logisches und klares Denken jeden Tag geschult sein will. Unsere Intuition gibt uns oft innerlich einen Wink, der uns aufmerksam machen will, dass etwas unstimmig ist. Gerade in den so zahlreichen ach so esoterischen You-Tube-Videos befinden sich geistige Fallgruben, in die man so sanft fällt und die mit geistigen Moschus- und Patschuli-Düften, die oft schwarzmagisch eingesetzt werden (https://bit.ly/3JbHwtv), angereichert sind.
Ich erinnere mich eines Channelings, in dessen Rahmen Erzengel Michael mit seinem Schwert Excalibur auftauchte. Excalibur ist allerdings das Schwert von König Artus und Michael taucht gewiss nicht mit dem Schwert eines Repräsentanten der Empfindungsseele (https://bit.ly/3XUbuqk) auf, der Artus nun einmal war, so wegweisend er für seine Zeit auch gewesen ist.
Gewisse Kräfte verraten sich in der Regel immer an irgendeinem Punkt. In diesem Channeling war dieser Punkt ein angebliches Michael-Schwert namens Excalibur. Ich habe das damals in den begleitenden Chat geschrieben, in dem sich viele Hörende tummelten. Aber es hat niemanden interessiert.

Anmerken möchte ich, dass ich es keinesfalls bedenklich finde, wenn jemand auch ausgelassen und euphorisch sein kann. Gewiss nutzen manche Esoteriker Formen von Ekstase zu Zwecken der Selbstdarstellung und wollen mit einer euphorischen Verbundenheit mit der Geistigen Welt ihren tiefen Bezug zu dieser inszenieren; es gibt viele Formen der Scheinheiligkeit.

In den Aussagen Steiners geht es vor allem darum, dass sich Ekstase verselbständigen und zu einem generellen Ich-Verlust führen kann; dies aufgezeigt zu haben, finde ich wichtig, denn gewiss werden auch von manchen diesbezügliche Gefahren unterschätzt. In diesem Sinne werte ich Steiners Aussagen. 

Schiller spricht ja in „Freude schöner Götterfunken“ von Freudetrunkenheit - und die ist gewiss euphorisch und darf wohl sein.
Ich finde, man kann im Übrigen auch in positivem Sinne außer Kontrolle geraten. Ich kann mir das bei Steiner, was mir von ihm bekannt ist, nicht vorstellen, aber er wird Gott sei Dank nicht nach dem, was ein anderer sich vorstellen kann, gelebt haben.

Sonntag, 1. Januar 2023

2023: ein sorgenfreies Jahr? Wenn ja, warum? - Von Goethe lernen!

In der Gestalt des Faust hat Goethe uns einen Menschen vor Augen geführt, der sich vor diesen unseren Augen, wenn wir denn sehen wollen, entwickelt, Bewusstseinsschritt für Bewusstseinsschritt.

Im ersten Teil dieses großen Werkes lässt sich Faust auf Mephistopheles ein, nachdem er schon kurz davor war, am Leben zu verzweifeln und nur mit Hilfe eines österlichen Wunders am Leben bleibt. Allerdings bleiben die, mit denen er zu tun hatte, weitgehend nicht am Leben, am allerwenigsten Gretchen, das er schwängert, um die junge Dame dann schmählich sitzen zu lassen, verwechselt er doch, wie das Männer gerne tun, Begierde mit Liebe. Deshalb müssen nicht nur Margarete sterben, sondern deren Kind, Mutter und Bruder. Mephistopheles dagegen reibt sich vergnügt die Hände. Doch am Ende von Teil I erlebt der "Der Herr der Ratten und der Mäuse, / Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse" - wie er sich selbst nennt - sein Waterloo: Er sieht Margarete, die ihr Kind aus purer Verzweiflung nicht austragen konnte und sich so in Schuld am Wertvollsten, was wir Menschen haben, dem Leben, verstrickt, gerichtet und verkündet im Kerker Gretchens lauthals: "Sie ist gerichtet!"
Da ertönt jene gewaltige Stimme aus dem - wie Atheisten (die es in Wirklichkeit gar nicht gibt) es gerne nennen - Off, und korrigiert ihn entscheidend mit den Worten: "(Sie) ist gerettet!".

Im Deutschen, dieser wunderbar differenzierten Sprache, kennen wir ein Vorgangspassiv (im Präsens: sie wird gerettet) und ein Zustandspassiv. Es macht einen himmelweiten Unterschied zu ersterem, denn hier ist etwas in einen Zustand übergegangen, das wertvoller nicht sein kann, weil Gott nicht die Sünde kennt, wie sie uns über Jahrhunderte von der Kirche in Herz und Hirn gebrannt wurde, da es für jenen trotz allem Geschehenen so ist - wie es unter den letzten Worten des Faust I heißt: Sie ist gerettet.

Auch Faust ist gerettet, man mag es kaum glauben; der Beginn des zweiten Teils macht es deutlich:
Trotz großer Schuld - immerhin "zieren" die vier erwähnten Toten seinen Weg - ist er durch heilsamen Schlaf in der Lage, weitere entscheidende Schritte auf jenes große Ziel hinzugehen, das das Männliche in uns nur zum Ziel haben kann: das Ur-Weibliche - Goethe nennt es das "Ewig-Weibliche".
Ganz will es ihm in diesem Werk noch nicht gelingen. Aber Faust hat zu Helena, in der Goethe das Ewig-Weibliche sich personifizieren lässt - zum Abschluss nennt er, um was es ihm geht, in einer Wendung zum Christlichen hin "Mater Gloriosa" - entscheidenden Kontakt aufgenommen und mit ihr sogar ein gemeinsames Kind gezeugt, Euphorion.
Doch ist es ein Trugschluss, dem sich zumeist allerdings nur diverse scheinheilige Esoteriker hingeben, zu glauben, man könne auf Erden leben, ohne noch immer einen Erdenrest in sich zu haben:
Helena und Euphorion entschwinden wieder; Faust bleibt ein Mensch, wenn auch ein seelisch-geistig sehr weit entwickelter, hat er doch den Schritt zu den drei Müttern zu gehen vermocht, ein Schritt, den zu gehen in den Mythen nur wenigen vergönnt war, u.a. Odysseus, Orpheus, Herakles - und, wie manche zur Kenntnis zu nehmen bereit sind: Christus.
Auf der Erde jedoch kann man ein Ewig-Weibliches nicht auf Dauer an sich binden. Immer wieder - bei entsprechendem Streben - aber in (zunehmend intensiveren) Kontakt treten.

Dass Faust noch zumindest ein letzter Schritt fehlt, machen nicht nur das Entschwinden Helenas und Euphorions im dritten Akt des zweiten Teiles deutlich, sondern auch in Akt 5, schon ganz gegen Ende des Werkes, das Auftauchen der vier grauen Weiber - dem Mangel, der Not, der Schuld und der Sorge. Zumindest eine der Vieren verbleibt in Fausts Haus: es ist die Sorge. Mit ihr muss er sich auf ein Wortgefecht einlassen, und es wird deutlich, für wie schwierig Goethe die Überwindung der Sorge hält ("Wen ich einmal mir besitze, / Dem ist alle Welt nichts nütze").

Das etymologische Wörterbuch des Deutschen kennt zwei Bedeutungsvarianten von "Sorge (wer mag, kann sich hier informieren: https://bit.ly/3G75eUS) und Faust scheitert noch an jener, die dort mit "Kummer" bzw. "Gram" bezeichnet wird. Faust grämt sich nämlich furchtbar darüber, dass an jener Stelle, wo er eine wunderbare Aussicht über sein Meisterstück, sein Lebenswerk haben könnte, auf seinem Grund unter den Linden droben also, die Hütte der beiden Alten, von Philemon und Baucis steht.
Goethe hat ja die Hütte zu einem der zauberhaftesten Motive der Weltliteratur gemacht (Faust in Teil I, in ihrem Zimmer hingerissen an Gretchen denkend: "Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich.") Indem er nun Mephistopheles befiehlt - jener hat ja beste Erfahrungen im Ausführen von solchen Befehlen Fausts, hat er doch auf dessen Wunsch hin der Mutter Gretchens, um ein Tête-à-Tête mit der Geliebten zu ermöglichen, einen Schlaftrunk verpasst, aus dem allerdings jene nicht mehr aufwachen sollte - indem Faust also Mephistopheles befiehlt, die beiden Alten zur Seite zu schaffen, erledigt jener das mit Hilfe dreier Schergen in gewohnt radikal zuverlässiger Weise, indem deren Zuhause abbrennt, was die beiden Alten vor Schreck sterben lässt. Zwar sucht Faust, seinen Kopf aus der Schlinge der Verantwortung zu ziehen ("Tausch wollt´ ich, wollte keinen Raub"), doch kennen wir ja diesen Euphemismus von Worten zur Genüge aus unserer politischen Landschaft: Was Faust "Raub" nennt, war im Grunde eine durchaus willkommene Tötung, weil es ihm nun möglich ist, "Zu überschauen mit einem Blick / Des Menschenwerkes Meisterstück", was also er geleistet hat. Doch Lynkeus, der Türmer auf Faustens Schlosswarte, bringt es auf den Punkt, wenn er davon spricht, dass "die innere Hütte loder(t)". Mit dem Abfackeln der Hütte der beiden Alten lodert vor allem die innere Hütte in Fausts Seele, dort also, wo eine geistige Heimat ihren Ort hätte finden können, ja sollen,

Für mich ist, bevor ich zum Schluss dieses Beitrages und seinem besonderen Sinn für das Jahr 2023 komme, ein Hinweis wichtig, damit nicht jene, die mit dem Christentum aufgrund seiner Kriminalgeschichte auf Kriegsfuß stehen (vgl. Karlheinz Deschners "Kriminalgeschichte des Christentums"), nämlich, dass das wahre Christsein und Christentum für mich eine Bewusstseinsstufe, keine Religion im üblichen Sinne ist, eine Bewusstseinsstufe, die sich gerade im Deutschen in der Tatsache niederschlägt, dass die erste Person des Personalpronomens in dieser unserer Sprache ausgerechnet jene Initialen enthält, die für mich eine wegweisende Bedeutung beinhalten: Iesus Christus: I-CH.

Goethe beschließt seinen "Faust" ja im Grunde mit einem Verweis, den zwei Bibelzitate spiegeln. Das eine findet sich in einem Brief des Petrus und lautet: „Alle eure Sorgen werfet auf ihn, denn er sorgt für euch.“
Und Paulus schreibt in seinem Brief an die Philipper: „Macht euch keine Sorgen! Ihr dürft in jeder Lage zu Gott beten. Sagt ihm, was euch fehlt, und dankt ihm! / Dann wird Gottes Friede, der all unser Verstehen übersteigt, eure Herzen und Gedanken bewahren, weil ihr mit Jesus Christus verbunden seid.“

Sind wir in der Lage, alle Sorgen aufzugeben, und ist das überhaupt sinnvoll?
Wenn ein geliebter Mensch längst da sein sollte und einfach nicht kommt oder wenn der eigene Zug Verspätung hat, wo doch ohnehin für den Anschlusszug kaum Zeit zum Umsteigen bleibt - ist das nicht übermenschlich, sich keine Sorgen zu machen?

Goethe deutet an, dass es möglich sein könnte im Rahmen seiner Religiosität, die sich u.a. auch in seinen Geheimnissenund seinem Märchen von der grünen Schlange zeigt.
Aber es kann nicht sinnvoll sein, sich unnötig unter Druck zu setzen und so zu tun, als gäbe es Angst und Sorge einfach nicht. Man muss nicht mit Gewalt einen Erdenrest negieren wollen.

Wichtiger ist, was Goethe für mich mit dem "Faust" vermitteln will: Es gibt einen Weg zum Ewig-Weiblichen, zu den Urgründen unseres Seins, den wir nur verstehen, wenn wir erkennen, dass alles Vergängliche ein Gleichnis ist und die Aufgabe von uns Menschen, in dem, was wir auf der Erde erfahren, Verweise auf ein Ewiges zu erkennen, um uns jenem wieder anzunähern, um sozusagen ins Reich der grünen Schlange zu gelangen.
In den Mythen steht das Weibliche für die Seele des Menschen, das Männliche für den göttlichen Geist. Er ist es, der die Seele befruchten will. Wir finden dies in der Tatsache, dass Osiris mit Isis Horus zeugt, wir finden das angesprochen in der so oft verkannten Jungfrauengeburt der Maria, die nicht anders ist als eine sehr reine Seele; wir finden es angesprochen in der Zeugung des Euphorion so wie Heinrich von Ofterdingen das Ewig-Weibliche in jenem Gesicht findet, das ihm die Blaue Blume zeigt.

Für uns ist dieses Ewig-Weibliche so wichtig, weil wir in einer Zeit leben, in der - so stellt es sich jedenfalls für mich dar - es gilt, das kaputte Männliche, das derzeit die Welt regiert (Namen zu nennen, die sich da besonders anbieten, ist wohl kaum notwendig) abzulösen und das Männliche zu heilen durch eine bewusste Weiblichkeit als einer bestimmten Qualität der Seele der Menschen.
Diese Weiblichkeit ist kosmischer Natur; sie kann hören und muss nicht ununterbrochen geredet oder geschrieben haben; dass sich Medien in so starkem Maße etabliert haben wie Twitter, Facebook, Whats App, Telegram und andere und so viele Worte produziert werden, die so oft geistiger Müll sind und den Wert des wahren Wortes, des Logos, hintertreiben, ist kein Zufall. Weiblichkeit gibt zudem Wärme, die unsere Seelen dringend braucht, wie es auf wunderbare Weise die Pietà Michelangelos und die Sixtinische Madonna Raffaels zeigen ...

Ich glaube, dass es möglich ist, diesen Weg zum Ewig-Weiblichen zu beschreiten und dass das bereits in der letzten Zeit geschieht, denn die Menschheit ist mehr denn je an einem Punkt angelangt, an dem viele erkennen, dass sich Entscheidendes ändern muss und ich vermute, dass vor allem die jüngeren Generationen und auch die Frauen dieser Erde in Afghanistan, im Iran und anderswo nicht mehr lange hinnehmen werden, was die alten Männer dieser Erde treiben, auch die jungen Männer, wenn sie so alt sind wie die älteren Brüder der Grimm-Märchen.
Übersehen sollte man nicht, dass für die männliche Seite einer Frau Vergleichbares gilt; auch deren männliche Seite kann sehr krank sein.

Es liegt an uns, die seelisch-geistigen Bewegungen zum Ewig-Weiblichen hin, die sich auszeichnen durch eine Wertschätzung allen Lebens, zu unterstützen und bewusst selbst zu gehen, und ich vermute, wenn Goethe heute wieder da wäre, würde er nach wie vor zu dem, was er im Faust geschrieben hat stehen, er würde vor allem aber eines verändern, er würde sagen: Lasst Euch nicht nur ziehen vom Ewig-Weiblichen! Geht vielmehr bewussten Schrittes auf es zu!

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