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Samstag, 6. November 2010

"Sah ein Knab ein Röslein stehn ..." – Warum ein Mann - damals hieß er Goethe - solche Zeilen schrieb ...



Ich hatte gerade an anderer Stelle über Volkslieder geschrieben, und dabei muss mir Goethes Lied über den Weg gelaufen sein, denn als ich den Artikel beendet hatte, kam es mir immer wieder in den Sinn. Es strahlt auch etwas Eigenartiges aus:

Sah ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
war so jung und morgenschön,
lief er schnell, es nah zu sehn,
sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!“

Röslein sprach: „Ich steche dich,
dass du ewig denkst an mich,

und ich will's nicht leiden.“
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
half ihm doch kein Weh und Ach,
musst' es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Natürlich liegt diese Ausstrahlung an den Diminutiven, den volksliedhaften Koseformen, eben Röslein.
Auch an dem vielfachen Wiederholen dieser Koseform - achtzehnmal im ganzen Lied.
An den Inversionen, den Wortumstellungen, wodurch die Sätze bewusster, erwartungsvoller vorwärtsdrängen; es heißt eben nicht: Er lief schnell, sondern lief er schnell ....
An dem Wunsch des Knaben, dem Röslein nahe zu sein.
Und an dem liebevollen Ausdruck, dies Röslein mit vielen Freuden zu sehn.


Alles steht knapp und schlicht da, aber in seiner Form unglaublich verdichtet.

Eigentlich möchte man doch, dass das Lied, das 44 Jahre, nachdem es Goethe geschrieben hatte, von Franz Schubert vertont wurde, mit der ersten Strophe endet. Was für eine Friede. Frieden im Gärtlein.

Warum noch Strophe zwei und drei? – Muss das sein?

In Wikipedia ist zu lesen


Das Gedicht basiert auf einem Lied aus dem 16. Jahrhundert und wurde von Goethe während seines Studienaufenthaltes in Straßburg verfasst. Zu dieser Zeit hatte Goethe eine kurze, aber heftige Liebschaft mit der elsässischen Pfarrerstochter Friederike Brion, an die auch das Gedicht gerichtet war. Gemeinsam mit anderen an Brion gerichtete Gedichte und Lieder wird das „Heidenröslein“ zu den „Sesenheimer Liedern“ gezählt.
Genauer gesagt ist es wohl so, dass Goethe diese Liebe und sein eigenes Verhalten in diesem Lied, das zu einem Volkslied wurde, verarbeitet hat. Denn das siebzehnjährige Sesenheimer Pfarrerstöchtern muss ihn sehr geliebt haben. Es waren wohl seit dem Kennenlernen im Oktober 1770 Wochen und Monate eines beiderseitigen großen Zuneigens. Darüber ist viel geschrieben worden, aber Genaues weiß eigentlich niemand außer den beiden. Fest steht, dass Friederike später alle Heiratsanträge ausschlug und ihre Schwester weiß zu berichten, sie, Friederike, habe einmal gesagt: "Wer von Goethe geliebt worden ist, kann keinen anderen lieben."

Goethe hat Friederike 1779, Jahre später also, noch einmal aufgesucht. Doch nicht aus Liebe.

Ein Briefanfang, den Goethe 1770 allerdings so nicht abgeschickt hat, sondern eine zurückhaltendere Version schrieb, lautet - hier also in der freimütigen Version:


Liebe neue Freundinn,

Ich zweifle nicht Sie so zu nennen; denn wenn ich mich andes nur ein klein wenig auf die Augen verstehe; so fand mein Aug, im ersten Blick, die Hoffnung zu dieser Freundschafft in Ihrem, und für unsre Herzen wollt ich schwören; Sie, zärtlich und gut wie ich sie kenne, sollten Sie mir, da ich Sie so lieb habe, nicht wieder ein Bissgen günstig seyn?
Keine Frage, der junge Goethe lief schnell, ihr nahe zu sein.

Und man hat viel hineininterpretiert, was Strophe 2 und 3 meinen könnten, bis hin, dass Goethe dem Röslein gewaltsam die Jungfräulichkeit geraubt habe.

Ich glaube das nicht.

Ich glaube vielmehr, dass Goethe, als er die Zeilen schrieb, sich dessen bewusst war, dass er mit seinem Verhalten das Röslein gebrochen hat, denn am 6. August 1771 besucht Goethe Friederike als Geliebter das letzte Mal, allerdings ohne ihr zu sagen, dass er nicht zurückkommen werde. Erst in Frankfurt angekommen vollzieht er die Trennung, die er selbst auf seine eigene Unsicherheit zurückführt. In seiner Lebensdarstellung Dichtung und Wahrheit wird er schreiben:

"Die Antwort Friedrikens auf einem schriftlichen Abschied zerriß mir das Herz ... Ich fühlte nun erst den Verlust, den sie erlitt ..."

Wohlgemerkt: den sie erlitt, nicht: den er erlitt!

Es ist, als ob die zweite und dritte Strophe des Liedes die Tragik dieser jungen Frau aufgenommen hätten und auf eine Weise wiedergeben, die der Lesende oder Hörende wahrnimmt, auch wenn er um das Herzeleid Friederikes nicht weiß. Nur ist leider eines sicher: Goethe hat - zumindest gilt dies für dieses Leben - nicht ewig an sie gedacht, das Röslein, also Friedrike, an ihn aber schon.

Damals mögen schon die ersten Spuren der Leiden des jungen Werther in Goethes Seele heraufgedämmert sein, in dem es auch um einen jungen Mann geht, der sich in seinem Selbstmitleid und der Unfähigkeit zu handeln, suhlt. Auch Goethe war in der Beziehung zu Friederike nicht Manns genug, ihr von Angesicht zu Angesicht zu sagen, dass er sie nicht mehr sehen wolle; ihr hätte das geholfen. – Ein Brief kann viel eher ein Messer sein.
Von daher wäre es möglicherweise ehrlicher gewesen und es hätte die Rolle Friederikens genauer erfasst, ihr vergebliches Weh und Ach, hätte Goethe geschrieben:


Und der feige Knabe brach
's Röslein auf der Heiden; (...)
Doch Vorsicht, es mag wie in den Leiden des jungen Werther sein: Dort hat die Liebe Werthers - sie heißt Lotte - einen großen Anteil an seinem Schicksal, auch wenn sie so hehr erscheint; sie ist es nicht; ihr Egoismus ist nur bestens versteckt, ja, Werther wollte ihn selbst nicht sehen.
So wissen wir nicht, welchen Anteil Friedrike an dem Verhalten des wilden Knaben Johann Wolfgang hat!

Deshalb nehmen wir die 3. Strophe so, wie sie ist:

Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
half ihm doch kein Weh und Ach,
musst' es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden
.

PS: Im Folgenden - ich bin zu Gast bei Art d´Hommage - führe ich in einem Gespräch mit Rainer Dahlhaus aus, warum Volkslieder so wertvoll sind - noch heute:

 



Wer noch ein Beispiel von Sesenheimer Lyrik mag: hier

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2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Der Abschied:

Doch ach schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen, welche Wonne!
In deinem Auge, welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Johannes G. Klinkmüller hat gesagt…

Ja, die Strophe findet sich am Ende des obigen Post in meinem Link zu "Willkommen und Abschied", einem Gedicht, das man zur sogeannten Sesenheimer Lyrik zählt.