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Freitag, 15. August 2014

. . . wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken . . . – Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief: Dokument spiritueller Entwicklung

1902 schreibt Hugo von Hofmannsthal einen Brief unter dem Namen Lord Chandos an Francis Bacon, einen damals weithin bekannten Philosophen und Naturwissenschaftler, der doch eigentlich der völlig falsche Adresssat sein muss. Im Mittelpunkt des Briefes nämlich stehen im Grunde Gefühle, Gefühle für Gegenstände wie Gießkannen, aber auch für Tiere, wie z.B. Ratten.
Darüber ausgerechnet einem Mann wie Bacon schreiben zu wollen, dünkt aberwitzig, denn Francis Bacon (1561-1626), ein Zeitgenosse Galileis, ist ein Mann der kopernikanischen Wende:
Die Erde steht nicht mehr im Mittelpunkt, wie es seit Ptolemäus galt und dem bisher sogenannten ptolemäischen Weltbild entsprach. Alle früheren Koordinaten zählen nicht mehr.
Ein neues, ein mechanistisches Welt etabliert sich mit Folgen, die wir bis heute spüren. So entwirft nicht von ungefähr Rene Descartes (1596-1650) ein mathematisches Bild der Natur und lehrt, dass alles in der Natur auf sich bewegende Materie zurückgeführt werden kann. Sein berühmter Satz prägt über Jahrhunderte die Naturwissenschaften und ihre Orientierung am Materiellen:



Gebt mir Materie und ich werde das Universum erschaffen!

Obwohl die meisten der federführenden Köpfe tief religiös sind, ist keine Rede mehr von einem Geistwesen namens Gott, der die Welt erschaffen haben soll, keine Rede mehr von dem Buddhawort, dass alle Dinge im Geist entstünden.

Eine unglaublich euphorische Aufbruchsstimmung erfasste damals die Menschen, die Wissenschaftler. Wie Kolumbus, Magellan und andere von den Küsten des damals bekannte Landes ablegen, so legen nun auch die Wissenschaftler von den herkömmlichen Wissensgestaden ab mit dem Mut, aufs offene Meer zu segeln. Kein Wunder formuliert Bacon:


Fort mit den geschichtlichen Autoritäten, den gepriesenen Meistern, fort mit Aristoteles und seinen Lehren (...) Weshalb ständig nach dem Warum der Dinge fragen - wichtig ist das Wie! (...) Allerdings lässt sich die Natur nur besiegen, wenn man ihre Gesetze befolgt; sie zu kennen bedeutet Herrschaft über die Natur: Wissen ist Macht!

Warum ich darauf verweise, wird klar, wenn man die Ausführungen von Lord Chandos, alias Hugo von Hofmannsthal, liest:

Im Grunde hat er eine genau gegenteilige Auffassung, gerade, was die Natur betrifft. Deshalb verwundert mich zutiefst, warum Hugo von Hofmannsthal seinen Lord Chandos dessen Brief an Francis Bacon richten lässt. Eigentlich ist das der vollkommen falsche Adressat.

Mich wundert auch, dass ich bisher nirgends gelesen habe, dass Germanisten über diesen Tatbestand geschrieben hätten.

Jedenfalls hat selten jemand unmissverständlicher eine spirituelle Stufe seiner Entwicklung so überzeugend zum Ausdruck gebracht wie Hugo von Hofmannsthal, den Germanisten und Gedichtliebhaber als Verfasser zum Teil mystisch-magischer Gedichte kennen, ich denke an Ein Traum von großer Magie oder Weltgeheimnis.

Germanisten klassifizieren diesen fiktiven, also erfundenen Brief, den man in Fachkreisen gemeinhin als Chandos-Brief bezeichnet, unter dem Aspekt der Sprachkritik, denn ganz offensichtlich ist: Hofmannsthal sieht sich nicht mehr in der Lage zum Ausdruck zu bringen, was in ihm vorgeht.
Tatbestand allerdings ist, dass Hofmannsthal zu der Zeit, als er jenen Brief abfasst, du rchaus sehr produktiv ist und auch der Brief selbst ja in keiner Weise von einem sprachlichen Unvermögen zeugt, im Gegenteil:
Zunächst schreibt Lord Chandos - man darf also nicht alles, was Letzterer über sich sagt, eins zu eins auf Hofmannsthal umlegen - über seine Pläne, die er auf dem schriftstellerischen Sektor vorgehabt habe und bekundet schon hier ein Bewusstsein, wie man es noch mehr Menschen wünschte:


Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen des Wahnsinns ebensowohl wie in den äußersten Verfeinerungen eines spanischen Zeremoniells; in den Tölpelhaftigkeiten junger Bauern nicht minder als in den süßesten Allegorien; und in aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiges Mensch einer schönen sanftäugigen Kuh aus dem strotzenden Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich, in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog.

Das eine war wie das andere; keines gab dem andern weder an traumhafter überirdischer Natur, noch an leiblicher Gewalt nach, und so gings fort durch die ganze Breite des Lebensbedingungen, rechter und linker Hand; überall war ich mitten drinnen, wurde nie ein Scheinhaftes gewahr: Oder es ahnte mir, alles wäre Gleichnis und jede Kreatur ein Schlüssel der anderen, und ich fühlte mich wohl den, der im Stande wäre, eine nach der andern bei der Krone zu packen und mit ihr so viele der andern aufzusperren, als sie aufsperren könnte. Soweit erklärt sich der Titel, den ich jenem enzyklopädischen Buch zu geben gedachte.

So weit, so gut. Wir finden dieses Bewusstsein auch in vergleichbarer Weise bei dem jungen Werter in jenem berühmten Brief vom 10. Mai.

Doch dann muss Lord Chandos feststellen, dass sein Geist aus der aufgeschwollenen Anmaßung seiner Pläne und jenes eben angeführten Bewusstseins in sich zusammensinkt. Weder kann er sich dies auf einem religiösen Hintergrund erklären noch auf einem irdischen und er muss Francis Bacon, dem Adressaten mitteilen:


Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.

Die ganzen alltäglichen Anlässe, so lässt er wissen, z.B. sein Kind zu tadeln oder, worüber sich Nachbarn unterhalten, kämen ihm als bedenklich, ja lügenhaft und unbeweisbar vor. Was für ihn sonst wichtig und wirklich gewesen sei, zerrinne ihm:
Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.
( . . . ) Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie.

Die Wirklichkeit, die Hofmannsthal alias Chandos wahrnimmt, lässt sich nicht mit Worten erfassen.

Warum das so ist, wird in den folgenden Sätzen deutlich - wie wollen sich auch solche Offenbarungen wiedergeben lassen:


Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.

Offensichtlich kann alles an Leben gewinnen, alles beseelt sein, und offensichtlich gibt es da auch nicht die übliche Wertigkeit, die wir gern vornehmen, wenn wir Gegenstände bewerten.

Mich erinnert das an die Sichtweise indianischer Kulturen auf ihre Wirklichkeit:


WAS SIEHST DU HIER, MEIN FREUND? Nur einen gewöhnlichen alten Kochtopf, verbeult und schwarz vom Ruß. Er steht auf dem Feuer, auf diesem alten Holzofen da, das Wasser darin brodelt, und der aufsteigende Dampf bewegt den Deckel. Im Topf ist kochendes Wasser, Fleisch mit Knochen und Fett und eine Menge Kartoffeln.
Es scheint, als hätte er keine Botschaft für uns, dieser alte Topf, und du verschwendest bestimmt keinen Gedanken an ihn. Außer, dass die Suppe gut riecht und dir bewusst macht, dass du hungrig bist.
Aber ich bin ein Indianer. Ich denke über einfache, alltägliche Dinge – wie diesen Topf hier – nach ... (vgl. Indianische Weisheit (II): Das Leben als Symbol begreifen)
Wer weiterlesen möchte: hier 

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