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Sonntag, 7. Juni 2015

Was Dante über seine weibliche Seite erfährt: Wie zustandekommt, was wir so Liebe nennen

Die folgende Stelle der Göttlichen Komödie Dantes steht fast etwas unauffällig zu Beginn des 18. Gesangs. Dante ist mit seinem Führer Virgil im Fegefeuer, am Berg der Läuterungen unterwegs - also in jenem Abschnitt seiner Reise, wo die Seelen sich aufhalten, die noch nach ihrem Tod durch Läuterung zum Seelenheil gelangen können - und wird demnächst in den 5. Kreis gelangen, zu den Geizigen.
Wenn man die Göttliche Komödie so liest, wird einem erst so richtig bewusst, wie intensiv solch eine Läuterung auszusehen hat. Die Geizigen zum Beispiel liegen auf dem Boden, immer zur Erde blickend und einer sagt, warum:
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Was Geiz vermag, das kannst du hier ermessen
An dieser Buße der verkehrten Seelen;
So bitter ist am Berg sonst keine Strafe.
Wie unser Auge einst sich nicht erhoben,
Zum Himmel, nur an Erdendingen haftend.
So muss Gerechtigkeit uns niederdrücken
Und wie der Geiz zu allen guten Dingen
Die Liebe löschte und das Tun verwehrte,
So hält Gerechtigkeit uns hier gebunden
In Fesseln fest an Händen und an Füßen
Und solang es des Herrn gerechter Wille
Sind wir hier ausgestreckt und ohne Regung.
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Die Geizigen müssen schwer büßen, weil sie sich in ihrem Leben immer nur mit irdischen Dingen beschäftigt haben, nie nach oben geschaut haben; sie lernen, wie das ist, wenn man immer nur zur Erde schaut; gefesselt liegen sie und tun das, was sie als Lebende die ganze Zeit taten: nur zur Erde zu schauen  . . .
Wie ernsthaft sie das aber tun, das überrascht mich immer wieder und es wird klar, wenn Papst Hadrian V., mit dem Dante gerade sprach (auch wenn jener ihn nicht sehen konnte), diesen bittet:
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Geh nun voran, du sollst nicht stehen bleiben
Denn dein Verweilen hindert mich am Weinen.
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Ich meine, die Divina Commedia ist 700 Jahre alt und wir dünken uns heute so aufgeklärt, zumal wir ja ein ganz anderes Weltbild haben. Aber was mir so deutlich beim Lesen wird, ist, wie wenig ernst wir, verglichen mit Dante und seinem Werk, den Weg der Seele nehmen. Wenn man diese Gesänge liest, wird einem absolut deutlich, welche Verantwortung man gegenüber dem Leben  hat; ich glaube, das macht unter anderem ihren großen Sinn aus.
Zurück zu dem Beginn des 18. Gesangs.
Dante träumt.
In seinem Traum ist die männlich handelnde Person Virgil, sein Führer durch das Jenseits. Jener ist also als  männliche Gestalt ein Teil von ihm, von Dante, von seiner männlichen Seite. Indem Virgil im Traum auftaucht, bedeutet das, dass dieser Traum-Teil seelisch ziemlich entwickelt ist; das ist Virgil als sein Führer durch Hölle und Fegefeuer ja durchaus.
Und dann kommen da noch zwei Frauen vor, die eine ist eine Sirene, die andere könnte man als Engelsgestalt bezeichnen, zwei sehr unterschiedliche Facetten von Dantes weiblicher Seite.
Ulisses ist im Folgenden ein anderer Name für Odysseus, der ja auf seinen Irrfahrten auch einigen Frauen begegnete, Circe, den Sirenen, Kallypso . . . So viel vorweg. Mehr sag ich mal nicht :-)
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Hab' ich im Traum ein stotternd Weib geschaut: 
so beginnt der Traum-Bericht
Scheelblickend, ganz verkrümmt bog sie sich nieder,
Verstümmelt beide Hände, bleich die Haut. 
Ich blickt' auf sie, und wie die kalten Glieder 
Die Sonne neu belebt nach frost'ger Nacht,
So gab mein Blick geläuf´ge Sprach' ihr wieder 
Und hatt' in kurzer Zeit sie schlank gemacht 
Und auch auf ihren totenblassen Wangen,
So wie die Liebe will, die Farb' entfacht. 
Und wie die Zung' ihr nun gelöst war, sangen 
Die Lippen plötzlich so, dass solchem Bann
Mein Ohr und Sinn nur mühsam war' entgangen. 
„Holde Sirene bin ich", hob sie an; 
„Den Schiffer auf der hohen See bezwing' ich,
So lieblich tönt es, wenn mein Lied begann. 
Ulisses selbst auf seiner Irrfahrt fing ich 
Mit dem Gesang. Wer sich gewöhnt zu mir,
Kommt selten fort: solch voll Genügen bring' ich." 
Eh' noch ihr Mund sich schloss, war neben ihr 
Ein andres Weib, ein heiliges, gekommen,
Zu Schanden sie zu machen voll Begier.
„Virgil, Virgil", rief sie von Zorn entglommen, 
„Wer ist dies Weib?" Und flugs war er zur Hand
Und kehrte fest den Blick zu jener frommen, 
Griff die Sirene, öffnet' ihr Gewand 
Und riss es ab, um mir den Leib zu zeigen:
Da weckte mich Gestank, der rings entstand.
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Die Sirene war wirklich keine sonderlich anmutige Gestalt: scheelblickend, verkrümmt, verstümmelt . . .
Absolut interessant ist, was Dante im Traum jedoch macht: Er taut sie wie die Sonne förmlich auf; er formt ihre Gestalt, macht sie schlank, er gibt ihren Wangen Farbe. Nur deshalb kann sie so reden und sich in Szene setzen, wie sie es tut. Kaum, dass er sich ihrem Bann entziehen kann.
Unwillkürlich denkt man an jene Sirenen, die die Schiffer durch ihren Gesang anzogen und nicht mehr losließen (darauf weist die Frau ja auch selbst hin). Odysseus ließ sich auf Rat der Göttin bekanntlich, bevor er an den Sirenen, an deren Inselgestaden viele Gerippe von toten Schiffern lagen, vorbeisegelte, am Schiffsmast festbinden, sonst hätte er sich ihrer Anziehungskraft nicht entziehen können (seine Gefährten hatten die Ohren mit Wachs verstopft).
Wer weiß, was mit Dante - im Traum ist er ja Virgil - geschehen wäre, wäre da nicht jenes andere Weib aufgetaucht und hätte ihn durch ihren entsetzten Anruf förmlich aufgeweckt: Virgil, Virgil, wer ist dies Weib?
Obwohl Dante-Virgil hätte sehen müssen, was mit dieser Frau los ist - ihr Körper wies ihn ja mehr als deutlich auf ihre Seele hin - hübschte ER sie auf. Und nennt, was er tut, auch noch Liebe!
Mit einem Griff macht das heilige Weib, ein wissender, heiliger Teil seiner weiblichen Seite in ihm, alles klar: Das Öffnen des Gewandes der Sirene lässt deren Gestank frei, der Auskunft darüber gibt, was wirklich mit ihr los ist (In der vorliegenden Übersetzung scheint es so, als ob das der Traum-Virgil täte; in einer anderen, die zutreffend ist, tut dies das heilige Weib).
Ich finde diese Passage großartig, weil sie offenbart, was wir oft machen: Wir projizieren in einen Anderen etwas hinein, was er gar nicht ist. Aus welchen Gründen auch immer wir das tun, weil wir lange genug allein waren und unbedingt wieder eine Beziehung wollen oder aus welchen Gründen auch immer: Wir sind der Verfasser unseres eigenen Unglücks. Und wenn dann die Beziehung zu Ende geht, wenn wir auf einmal den Gestank wahrnehmen und womöglich entsetzt darüber sind, wie wir nur auf so jemanden hereinfallen konnten, dann täuschen wir uns womöglich noch gern darüber hinweg, dass das, was wir rochen, im Grunde unser eigener Gestank war. Wir wollten die wahre Realität des Anderen nicht riechen, und dass wir sie nicht wahr-nehmen konnten, hing damit zusammen, dass wir aufgrund unseres eigenen Inneren jenen Gestank für Wohlgeruch hielten. - So riechen ja auch wir.
Und manchmal bleiben wir sogar dabei, dass wir alles aus Liebe taten.
Und schimpfen über den Anderen.
Gut jedenfalls, wenn dieser Teil, dieser heilige Teil rechtzeitig auftaucht. Manchmal tut er es nicht. Aus gutem Grund.
Die Geizigen wüssten, warum. Manchmal blickt man einfach zu verbohrt nur auf Irdisches, auf sein Ego.
Interessant finde ich, was, aufgewacht, Dante zu Virgil sagt:
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. . . Was mich erfüllt mit solchem Zagen
Ist dieser neue Traum, er liegt auf mir
Dass ich nicht kann ihn aus dem Sinn mir schlagen.

Virgil darauf:


... Du sahst die alte Hexe hier,
Um die allein sie droben Pein bestehen:
Du sahst, wie sich der Mensch befreit von ihr.
Das sei genug; nun rühre Fers und Zehen.
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Virgil weiß, wie kostbar die Zeit ist, auch etwas, was Dante zu lernen hat (Virgil selbst, auch als "Toter", übrigens auch). Deshalb fordert er Dante auf weiterzugehen.
Was er jenem aber noch sagt, ist wichtig. Es beinhaltet nämlich, dass Dante gesehen hat, dass es sich von solchen Seiten, von solchen Hexen zu befreien gilt. Und dass Dante das gesehen hat, hat ihn befreit. - Dem Hinweis Virgils entnehme ich das.
Gleiches gilt im Grunde auch für unsere Träume. Sie können uns befreien.
Und solche Werke wie die Göttliche Komödie wirken ebenfalls so.
Ich kämpfe mich förmlich durch sie hindurch und viel kann ich von ihr nie lesen, ohnehin ist sie nur mit Kommentar, mit mehreren Kommentaren verständlich.
Aber sie löst so viel aus, kann so viel läutern.
Ein unglaubliches Werk.

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