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Donnerstag, 30. Juli 2015

ich far do hin mein strassen / in fremde landt do hin

Die Flüchtlingsströme der Gegenwart, die immer neuen Wellen von Vertreibung und Verbannung sind kaum noch zu zählen. Gut möglich, dass man das 20. Jahrhundert einmal das der Flüchtlinge nennen wird ..."

Die Aussage des aus Pommern stammenden, in Düsseldorf und Diepholz arbeitenden und 1905 verstorbenen Künstlers Hans-Albert Walter lässt die dramatische Zuspitzung der diesbezüglichen Situation zu Beginn unseres Jahrhunderts so richtig deutlich werden, denn das 21. Jahrhundert könnte schon jetzt dabei sein, in puncto Vertreibung und Heimatlosigkeit dem 20. den Rang abzulaufen; die Aussage Walters ruft in uns aber auch vor Augen, dass die Geschichte der Menschheit schon immer auch eine Geschichte von Völkerwanderungen war, von Vertreibung, Heimatverlust und Exil. Bisweilen waren es ganze Völker, die förmlich verlegt wurden. Die bablonische Gefangenschaft der Juden verweist darauf, aber auch die Verwerfungen ganzer Volksstämme im Rahmen hunnischer und langobardischer Einfälle an den Flanken Europas.
Die Entstehung des mittelalterlichen Europa ist auch eine Geschichte von Angst, Schrecken, Vertreibung, Not, aber auch von umsichtigem politischem Handeln, beispielsweise von Theodosius dem Großen.

Die Kirchen ducken sich feige weg!

Heute haben wir andere Voraussetzungen, mit den Flüchtlingsströmen, die nach Europa hereinbranden, umzugehen. Was die Situation schwierig macht, ist, dass gerade in diesem zeitgeschichtlichen Moment insgesamt ein ethisches Gerüst endgültig weggebrochen zu sein scheint, das eine große Hilfe hätte sein können, in der aktuellen Situation menschlich, ökonomisch und ingesamt politisch verantwortlich zu handeln. Dass manche Staaten sich schlicht weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, zeigt, dass es zu Teilen auch nicht mehr die geringste christliche Substanz gibt, ja auch keine ethische.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Kirchen sich feige wegducken und de facto keine Stellung nehmen in den aktuellen innenpolitischen Diskussionen. Dabei ginge es ihnen nicht so wie jenen, die auf christlich-ethische Standpunkte verweisen und die dann vehement in eine Ecke geprügelt werden, hingestellt als Moralapostel und Illusionäre.
Das mag deutlich machen, wo Europa heute menschlich steht; es mag dem ein oder anderen aber auch einen Hinweis geben, dass diese Herausforderungen kein Zufall sind.

Vielleicht kommen sie noch rechtzeitig, um aufzuzeigen, wie sehr ein überzogener Individualismus - das gilt auch für den Individualismus manchen Staates - und Materialismus die Menschheit in eine völlig falsche Richtung treibt.
Dass Länder wie Österreich und Deutschland sich ihrer Aufgabe nicht entziehen, auch nicht der damit einhergehenden notwendigen Diskussionen und dem Ringen um eine angemessene Lösung, rechne ich persönlich ihnen und dem Land, in dem ich lebe, hoch an.

Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun

Wir erleben heute in weltweitem Maßstab, was Menschen schon immer erleben mussten und was ein unbekannter Verfasser schon 1539 in seinem Lied festgehalten hat, wenn er schreibt:

Insbruck, ich muß dich lassen, / ich fahr do hin mein straßen, / in fremde Land do hin. / mein freud ist mir genomen / die ich nit weiß bekummen, / wo ich im elend bin.

Und mancher mag anlässlich der Worte des Andreas Gryphius, die jener angesichts der Zerstörung seiner Heimat gegen Ende des Dreißigjährigen Kriegs schrieb, an das Grauen, das der IS verbreitet, denken:

Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
Hat aller Schweiß, und Fleiß, und Vorrat aufgezehret. 
Die Türme stehn in Glut, die Kirch' ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschänd't, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest, und Tod, der Herz und Geist durchfähret. 
Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen. 
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot,
Daß auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.

Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh' ich wieder aus.

Wie ein roter Faden durchziehen die Lieder von Heimatverlust und Exil die deutsche Literatur, so auch das von Joseph Schaitberger 1771 geschriebene:

Ich bin ein armer Exulant, / also muss ich mich schreiben.
Man tut mich aus dem Vaterland / um Gottes Wort vertreiben.
Doch weiß ich wohl, Herr Jesu mein, / es ist dir auch so gangen.
Jetzt soll ich dein Nachfolger sein; / mach´s Herr, nach dei´m Verlangen. 
Ein Pilgrim bin ich auch nunmehr, / muß reisen fremde Straßen,
drum bitt ich dich, mein Gott und Herr, / Du wollst mich nicht verlassen.
(...)

Im deutschen Vormärz und bei Heinrich Heine häufen sich dann die Lieder und Gedichte, die thematisieren, was Wilhelm Müller in der von Franz Schubert so unnachahmlich vertonten Winterreise so formuliert: Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh' ich wieder aus . . .

Manche Strophe, gerade auch von Heinrich Heine, lässt zu Herzen gehen, was vielen ein heute weitgehend unbekannter Verfasser, Theodor Kramer, der 1916 im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, 1939 nach England emigieren musste und 1957 in seine Heimat nach Wien zurückkehren konnte, wo er ein Jahr später starb,1943 verfasste, indem er in Form der Stanze in fünfhebigen paarreimigen Versen metrisch so traditionell einen Inhalt vermittelt, der damals so brandaktuell und für viele galt:

Stehn meine Bücher, die ich vorm Verreisen
dir schenkte, noch auf deinem Bücherbord,
das roch nach Leder, Lack und schwarzem Eisen?
(Wir nahmen vielen noch den Umschlag fort.)
Kommst du dazu, in ihnen noch zu lesen,
wenn sacht am Licht der Wände Schatten zehrt
und wenn im Hinterhof der dürre Besen
des kranken Baums im Wind ans Fenster fährt?
(. . .)
Kann man bei euch die Freundschaft noch bewahren,
und macht, versteckt, ein Blick noch warm ums Herz?
Ich weiß es nicht und werd es erst erfahren,
bis es nicht Feuer regnet mehr und Erz.
Nichts kann ich tun, lang lieg ich wach im Leisen
und spür, wie mir der Laut im Mund verdorrt;
stehn meine Bücher, die ich vorm Verreisen
dir schenkte noch auf deinem Bücherbord?

Pars pro toto stehen hier die Bücher für die verlorene Heimat und den Schmerz, den das lyrische Ich empfindet.
In den unterschiedlichsten Schattierungen finden wir solche und ähnliche Schicksale gestaltet in den Gedichten von Bertolt Brecht, Hilde Domin, Rose Ausländer und Erich Fried.
Sie geben Zeugnis von Schicksalen, denen wir heute in so starkem Ausmaß wieder begegnen, dass sie uns zu überfordern drohen.

Es mag uns darüber nachdenken lassen, warum wir als Individuum nicht in ein Leben hineingeboren worden sind, das so unstet verläuft wie das so vieler Menschen auf unserem Planeten.

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