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Freitag, 18. Dezember 2015

Dass auf empörter Erde der neue Bund gestiftet werde!

Vor wenigen Wochen stand ich in Schweinfurt vor einem mir bis dahin unbekannten Denkmal und - welch ein Zufall - am selben Tag erhielt ich eine Mail, in der ein lieber Freund mich auf Friedrich Rückert hinwies.

Viele kennen seine Kindertotenlieder, aber verbinden sie zumeist mit Gustav Mahler, der einige wenige der über insgesamt vierhundert vertonte, womöglich im Innersten seiner Seele schon ahnend, dass ihm in wenigen Jahren ein vergleichbares Leid beschieden sein sollte wie Friedrich Rückert (1788-1866), der am Tod zweier Kinder fast zerbrach und schrieb:

Die von mir das Leben hatten,
Haben es zu früh verloren;
Soll die Mutter ihrem Gatten
Haben sie umsonst geboren?
Nein, ich hab' es mir geschworen,
Euer Leben fort zu dichten,
Daß mir nichts es kann vernichten.
An diese seine toten und in ihm so lebendigen Kinder adressiert schrieb er:

Ihr habet nicht umsonst gelebt;
Was kann man mehr von Menschen sagen?
Ihr habt am Baum nicht Frucht getragen
Und seid als Blüthen früh entschwebt,
Doch lieblich klagen
Die Lüfte, die zu Grab euch tragen:
Ihr habet nicht umsonst gelebt
In unser Leben tief verwebt,
Hat Wurzeln euer Tod geschlagen
Von süßem Leid und Wohlbehagen
Ins Herz, aus dem ihr euch erhebt
In Frühlingstagen
Als Blüthenwald von Liebesklagen;
Ihr habet nicht umsonst gelebt.

Wie sehr muss dieser Mann seine Kinder geliebt und wie sehr muss er sie vermisst haben! Kaum jemand hat jemals solch eine Totenklage angestimmt und es ist, als ob Friedrich Rückert sie stellvertretend für alle Eltern, die mit das Entsetzlichste, was es auf Erden gibt, dass nämlich Kinder vor ihren Eltern sterben, was in Zeiten von Krieg und Flucht leider immer wieder geschieht, erleben müssen.

Friedrich Rückert gehört zu jenen großen Deutschen, die einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben sind und auch bleiben werden. Doch er ist einer ihrer großen Versöhner. Er suchte nicht nur in seiner Dichtung den Tod mit dem Leben zu versöhnen, Freimaurertum mit romantischer Poetik, den Fernen Osten und den Nahen Osten mit unserer Welt in der Weisheit des Brahmanen und seiner Koran-Übersetzung, als einer, der übrigens über 44 Sprachen verfügte.

In jener erstgenannten Gedichtsammlung lesen wir:

Nichts Bessres kann der Mensch hienieden thun, als treten
Aus sich und aus der Welt und auf zum Himmel beten.
Es sollen ein Gebet die Worte nicht allein,
Es sollen ein Gebet auch die Gedanken sein.
Es sollen ein Gebet die Werke werden auch,
Damit das Leben rein aufgeh' in einen Hauch.

Dabei war Rückert zugleich sehr diesseitig; das bezeugen seine vielen Lieben; bevorzugt nach einem Wohnungswechsel verliebte er sich aufs Neue, und der ein oder andere Sonettenkranz - für diese Form der Dichtung ist ein hoher Form- und Gestaltungswille unerlässlich - mag das bezeugen. Zugleich belegen sie, dass es Rückert auch um die Versöhnung von Form und Inhalt war.

Form ist ja nicht nur Schablone, sondern nur sie kann wirklich dem Inhalt jene Flügel verleihen, die letzteren in die Seelen der Menschen Eingang finden lässt.

Das trifft auch auf Verse Friedrich Rückerts zu, die als einzige dieses großen Protestanten Eingang in das evangelische Gesangbuch fanden. Auch sie sprechen von Versöhnung, von einer entscheidenden sogar, nämlich von der Versöhnung des Reiches Gottes mit dem Erdenreich.

Wenn auch Jesus darauf verweist, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei, so sollte man nicht vergessen, dass die Welt, von der Jesus spricht, nicht eine lokale, geographische ist, sondern jene, die sich zu allen Zeiten um das goldene Kalb schart. Und dies geschieht nicht nur in Las Vegas, sondern immer da, wo Menschen die geistig toten Gesänge Baals anstimmen.

Dass eine Versöhnung beider Welten auch auf unserer Erde angestrebt werden kann, ja immer wieder auch einmal möglich sein mag, mag mancher Weihnachtsgottesdienst, manch kindliches Krippenspiel und auch das folgende Gedicht Rückerts bezeugen, das sich zu Beginn eigentlich in der lutherischen Perikopenordnung auf den dem ersten Adventssonntag zugeordneten Bibeltext bezieht, aber weit über diesen hinausweist. Sein Inhalt will in unsere heutige Zeit nicht mehr passen.

Wer schon sieht sich in niedern Hüllen, wer begegnet wirklich allen Menschen, die guten Willens sind, auch wenn es Muslime aus Afghanistan oder Syrien sind, mit Friedenspalmen?

Sehen wir nicht, wie wenig sich die Welt empört, wenn Länder Flüchtlingen Aufnahme verweigern, und wenn schon, dann doch nicht Muslimen!
Gut, dass es Deutschland tut, notwendigerweise mit der auf dem Hintergrund aktueller Ereignisse gebotenenen Vorsicht.

Wer Zwietracht sät, wird keinen Frieden ernten. Deshalb ist Friedrich Rückerts Lied so wichtig:

1. Dein König kommt in niedern Hüllen,
ihn trägt der lastbarn Es'lin Füllen,
empfang ihn froh, Jerusalem!
Trag ihm entgegen Friedenspalmen,
bestreu den Pfad mit grünen Halmen;
so ist's dem Herren angenehm. 
2. O mächt'ger Herrscher ohne Heere,
gewalt'ger Kämpfer ohne Speere,
o Friedefürst von großer Macht!
Es wollen dir der Erde Herren
den Weg zu deinem Throne sperren,
doch du gewinnst ihn ohne Schlacht. 
3. Dein Reich ist nicht von dieser Erden,
doch aller Erde Reiche werden
dem, das du gründest, untertan.
Bewaffnet mit des Glaubens Worten
zieht deine Schar nach allen Orten
der Welt hinaus und macht dir Bahn. 
4. Und wo du kommst herangezogen,
da ebnen sich des Meeres Wogen,
es schweigt der Sturm, von dir bedroht.
Du kommst, daß auf empörter Erde
der neue Bund gestiftet werde,
und schlägst in Fessel Sünd und Tod. 
5. O Herr von großer Huld und Treue,
o komme du auch jetzt aufs neue
zu uns, die wir sind schwer verstört.
Not ist es, daß du selbst hienieden
kommst, zu erneuen deinen Frieden,
dagegen sich die Welt empört. 
6. O laß dein Licht auf Erden siegen,
die Macht der Finsternis erliegen
und lösch der Zwietracht Glimmen aus,
daß wir, die Völker und die Thronen,
vereint als Brüder wieder wohnen
in deines großen Vaters Haus.





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