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Samstag, 8. August 2009

Über das Ende des christlichen Abendlandes



Berührt Dich das auch so sehr, wenn Du einen mächtigen Baum entwurzelt und dahingestreckt liegen siehst? Als ich nach dem Sturm Lothar durch unseren Wald ging, lag ein Baum auf der Erde, von dem ich niemals angenommen hätte, er könne fallen; sein Stamm konnten nur vier Menschen umfassen - und er sah so gesund aus ...
Es gibt nur wenige Hochkulturen, die als so mächtige und bewundernswerte Bäume dastanden wie die unsere im einstmals christlichen Abendland.
Was C.G. Jung vor mehr als 50 Jahren geschrieben hat, dass nämlich die christliche Kultur sich als hohl erwiesen habe, zeigt sich heute überdeutlich, und es gibt viele Gründe, dass sie am Boden liegt.
Zwei Wurzeln unserer Kultur: Palästina und Griechenland
Kaum eine Kultur hat in so kurzer Zeit so klag- und fast widerstandslos ihr ethisches Tiefenverständnis aufgegeben wie die christliche. Man muss im religiösen Sinne kein Christ sein, dennoch kann man es im ethischen Sinne sein:
Wir können noch heute die vorsokratischen Philosophen wegen ihrer im Grunde modernen Aussagen bewundern;
wir bewundern Sokrates, weil er seiner Überzeugung treu war, und wahrscheinlich kennen wir ihn deshalb noch, weil er für sie starb;
Platon hat mit seinem Höhlengleichnis ein unvergängliches Mahnmal in Bezug auf die Tatsache gegeben, wie viele in einer Schattenwelt leben und glaubten, es wäre die Welt des Bewusstseins;
ohne das geistige Volumen der griechischen Sprache hätte es kein Neues Testament geben können, das den Menschen ein Ziel vor Augen und ins Herz geben wollte, das nicht zu überbieten ist: ein Leben in Liebe.
Doch ist das Christentum an seinen eigenen Ansprüchen gescheitert, weil die Kirche nie verstanden hat zu vermitteln, dass niemand auf der Erde Liebe ständig besitzt, kein Papst, kein Nonne, keine Bürgerin, kein Bürger und dass der Weg zur Liebe nach dem Vorbild Jesu ein Weg ist, der nicht am Kreuz endet, sondern in der Auferstehung eines neuen Bewusstseins.
Anmut und Würde
Vielleicht hat der ein oder andere Auszüge in der Schule gelesen, ich spreche von einer von Friedrich Schillers ästhetischen Schriften, betitelt: Über Anmut und Würde.
Anmut und Würde?
Wende diese Begriffe mal auf das öffentlich rechtliche Fernsehen oder auf den Umgangston von Politikern an.
Wahrscheinlich peinlich, das Ergebnis.
Dabei gibt es sie, Menschen, die Anmut und Würde ausstrahlen, aber es sind aussterbende Exemplare und sie müssen vorsichtig sein, dass sie nicht ins Museum weggefangen werden.
Das Wertvollste am nachmittäglichen Schulunterricht ist, dass Jugendliche nicht jene Fernsehsendungen sehen können, in denen Zuschauer entweder durch das Ansprechen niederer bis niederster Instinkte angezogen werden oder es wird ihnen eine Welt voll Seife und Schaum angeboten, die mit gelebter Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat.
Ich schreibe hier auch von Stefan Raab, Mario Barth, Oliver Pochert und wie die Ikonen des postkomischen Zeitalters heißen, die ihre Sendungen insbesondere darauf aufbauen, dass sie den Nächsten auf widerliche Art durch den Schmutz ziehen oder ihn für blöd verkaufen, ein Unterfangen, dass in den letzten Jahren von Millionen Menschen öffentlich begrölt wurde und das immer noch den zahlreichen Kochsendungen den Rang abzulaufen vermag.
Ja, wenn einem dieser Unter-Halter gar nichts mehr einfiel, dann doch noch ein Witzchen über Rudolf Scharping oder das Aussehen der Angela Merkel. Wie hing doch eine halbe Nation über Jahre am Munde eines Harald Schmidt, der nicht ganz so trivial auch die akademischen Grade unserer Nation mit Sottisen über Mitmenschen bedienen konnte. Zuletzt öffentlich subventioniert. - Ehrlich gesagt fand und finde ich das ekelhaft.
Von unseren Kindern aber erwarten wir Respekt vor dem Mitmenschen.
Respekt auch vor dem anderen Geschlecht.
Es wird nicht mehr lange dauern, dass die televisionären Liebes-Sequenzen kollateraler Gymnastik ähneln. So schrecklich weit sind wir davon nicht mehr entfernt. Das Herz dient dabei nur noch der Sicherstellung von Pulsfrequenzen.
So arg tief können wir nicht mehr sinken.
Schade, dass es keine Zeitzeugen aus Sodom und Gomorrha gibt. Das ist - nur zur Information - kein Gesangsduo.
Das Wort Gethsemane - ich übertreibe leider kaum - kennen Schüler übrigens nicht mehr.
Das goldene Kalb ist aktueller denn je
Wir haben zugesehen, wie sich Macht und Geld Elfenbein-Türme bauen, an die wir nicht mehr herankommen. Schon lange gilt nicht mehr, dass derjenige viel verdienen darf, der viel Verantwortung trägt. Die Verantwortung von Managern und Politikern trägt in der Realität schon lange der arbeitslose Familienvater und das Kind, das noch nichts von dem weiß, was es morgen zu schultern hat, weil sich seit geraumer Zeit unsere Gegenwart aus der Zukunft finanziert.
Dennoch setzen wir - wider bessere Anschauung(!) - weiterhin auf obige Twin-Towers statt auf Yachin und Boas, die Säulen salomonischer Weisheit und Stärke.
Globaler Ethik-Mix
Jede Familie hat ihr Ethos, und wenn Menschen in eine Familie aufgenommen werden - sagt dann ein Familienvater: Unser ursprüngliches Familienethos gilt nicht mehr, es gilt der Mix aller?
Vor allem, wenn die Familie ein so wertvolles hat, wie es das christliche beinhaltet?
Ein Ethos voller Menschlichkeit und Liebe?!
Wenn ein Bundesland, das noch die Hauptstadt einer Republik ist, den Religionsunterricht als Regelunterricht abschafft, der die Wurzeln unserer einstmals christlichen Kultur vermittelt, dann ist das ein symbolisches Geschehen, für das man durchaus drei Tage die Flaggen auf Halbmast hätte setzen dürfen.
Gandhi war aus ganzer Seele Hinduist und zugleich ein Christ im Geiste, denn er schätzte die Bergpredigt wie es kaum Menschen mehr in Deutschland tun, dennoch hätte er nie seine Wurzel verleugnet.
Bei dieser Berliner Art kultureller Selbstlosigkeit ist eine Kultur auch sich selbst los.
Warum müssen wir die Vermittlung christlichen Bewusstseins aufgeben? Um zu zeigen, wie aufgeschlossen wir sind?
Dass in einer globalen Welt nur der mitspielen kann, der seine Dämme flutet?
Welch ein grenzenloser Irrtum.
Voraussetzung für Nächstenliebe ist die Liebe, die ich mir selbst schenke. Ohne dieses Geschenk an mich weiß ich nur sehr bedingt, was ich einem anderen schenken will.
Nur wer seine eigenen religiös-ethischen Werte schätzt und liebt, wird anderen Kulturen und Religionen Wertschätzung, ja Liebe entgegenbringen können.
Christsein ist für mich mehr als Ethik, mehr als Religion; auch wenn ihn bei uns die christlichen Kirchen vermitteln: Es ist für mich ein überkonfessioneller Bewusstseinszustand, ein Bewusstsein der Liebe, zugänglich für alle Menschen; warum sollte ich diese Basis verleugnen? Ich erlaube mir zu sagen: Ich sehe keine wertvollere.
Man kann nicht die Schönheit eines Blattes bewundern und schätzen, ohne den Ast zu bewundern und zu schätzen, den Ast nicht ohne den Stamm, den Stamm nicht ohne die Wurzeln.
Man kann aber durchaus den Ast, auf dem man sitzt, absägen. - So viel zum freien Fall.
Wenn ich meine Ansicht ganz klar formuliere: Eine solche Entscheidung wie die in Berlin können nur Menschen ohne kulturelle Wurzeln treffen.
Und ich füge hinzu: nur mit dem Verstand, nicht mit dem Herzen.
Hoffnung und Kraft aus Visionen für unsere Gegenwart und Zukunft
Unsere Gesellschaft schätzt ihre Wurzeln nicht, von Liebe ganz zu schweigen.
Selbst wenn es schwerfällt, angesichts unserer gesellschaftlichen Realität nicht hoffnungslos zu sein, halte ich es nicht mit Helmut Schmidt, der sich über Visionen mokierte, sondern weiterhin mit Albert Schweitzer, auch, weil es immer wieder Frauen und Männer wie ihn gibt, die Visionen haben und sie verwirklichen und ihr Wort als Aufruf zur Tat verstehen:

„Finden sich Menschen, die sich gegen den Geist der Gedankenlosigkeit auflehnen und als Persönlichkeiten lauter und tief genug sind, dass die Ideale ethischen Fortschritts als Kraft von ihnen ausgehen können, so hebt ein Wirken des Geistes an, das vermögend ist, eine neue Gesinnung in der Menschheit hervorzubringen.“

Das gilt - ich erlaube mir von Herzen zu sagen: Gott sei Dank - noch heute.
zuerst veröffentlicht in DIE FREIE WELT