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Montag, 7. April 2014

Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen . . .


Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.
Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds -
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.

Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal in mir das Licht entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen.

Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt.


Rainer Maria Rilke, 22.9.1899, Berlin-Schmargendorf

1 Kommentar:

Matthias hat gesagt…

Die Atembewegung
sagt mir,daß ich
nicht nur Atem habe,
sondern auch
Atem bin-
und sie legt sich
wie Seide und Samt
an alle Innenwände
meines Leibes.

Ilse Middendorf Der Erfahrbare Atem in seiner Substanz