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Samstag, 7. Mai 2016

"Ich sehne oft nach einer Mutter mich!" - Gedanken zu unseren Muttertagen.

Wie sehr ein Mutterbild zerrissen sein kann, zeigen obige Worte auf dem Hintergrund jener, die einer unserer größten Dichter in Bezug auf seine Mutter, die diese Worte nach dem Tod ihres Sohnes gelesen haben wird, ebenfalls äußerte: "Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag / und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag."

Rainer Maria Rilke hat in seinen Ersten Gedichten immer wieder manchmal fast zusammenhanglos wirkende Gedanken - oft sind es nur wenige Zeilen - in Reimen auf Papier geworfen, die einen dennoch nicht so schnell wieder freigeben, beispielsweise jene zwei folgenden knappen Strophen, die sich auf ein Gretchenschicksal zu beziehen scheinen, jener jungen Mutter also, die so schmählich von Faust im Stich gelassen worden war.
Wie zum Trost vermag der damals so junge Dichter, der immer wieder Zeit seines Lebens ein Seher war, dennoch in seinen Zeilen dem werdenden Muttersein ein Glück abzugewinnen, wissend, dass jedes im Mutterleib heranwachsende Kind - was kann uns auf Erden Wertvolleres widerfahren - sie, die Mutter, mit der Ewigkeit verbindet:

 
Und reden sie dir jetzt von Schande,
da Schmerz und Sorge dich durchirrt, -
oh, lächle Weib! Du stehst am Rande
des Wunders, das dich weihen wird.

Fühlst du in dir das neue Schwellen,
und Leib und Seele wird dir weit -
oh, bete, Weib! Das sind die Wellen
der Ewigkeit.

 
Diese Wellen der Ewigkeit haben auch Rilke Zeit seines Lebens berührt, vermittelt vielleicht auch durch die - wenn auch bigotte - Religiosität seiner Mutter, mittels deren er sicherlich dennoch viel Biblisch-Religiöses und für sein Leben und Schaffen Wertvolles lernte, die aber seine Seele vielleicht auch ausgesucht haben mag, sich von ihr abzugrenzen, um dann nur um so weiter ausgreifend nach dem Göttlichen in sich suchen zu können. Seine vielen Gedichte, die um Engel und Gott kreisen, bezeugen dies.

Rilkes Mutterbild war mehr als zerrissen. Sein 1915 verfasstes Gedicht bezeugt eine der beiden möglichen Seiten und tut noch beim Lesen weh:

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt,
und stand schon wie ein kleines Haus, um das sich groß der Tag bewegt,
sogar allein.
Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.

Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut.
Sie sieht es nicht, dass einer baut.
Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein.
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.

Die Vögel fliegen leichter um mich her.
Die fremden Hunde wissen: das ist der.
Nur einzig meine Mutter kennt es nicht,
mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind.
Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind.
Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag
und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag.

 
Sophie Rilke wird diese Sohnes-Worte vor ihrem Tod gelesen haben, denn sie überlebte ihn um fast fünf Jahre. Vielleicht mögen seine Verse heilsam für ihre Seele gewesen sein, die in ihrem Leben wohl nicht glücklich war, trennte sie sich doch nach kaum 11 Jahren Ehe von einem Mann, der ihren Ansprüchen nicht genügte, versah er doch nur eine bescheidene Beamtenstelle bei der Turnau-Kralup-Prager Eisenbahn, nachdem seine Versuche, mittels einer militärischen Laufbahn, im Rahmen deren er sogar für kurze Zeit Kommandant des Kastells von Brescia  gewesen war, gesellschaftlich zu arrivieren, gescheitert waren, weil er wegen eines Halsleidens seinen Abschied nehmen musste. 
Seine Frau, aufgewachsen in einer angesehenen Prager Kaufmannsfamilie - ihr Vater war gar Kaiserlicher Rat - trennte sich jedenfalls von ihm und zog nach Wien, um dem kaiserlichen Hofe nahe zu sein. Wer weiß, ob damit nicht auch zusammenhängt, dass ihr Sohn späterhin Kontakte zu den vornehmsten Adelsgeschlechtern Europas pflegte, gewiss nicht zu deren seelisch-geistigem Nachteil. 
Obwohl so oft von der Mutter enttäuscht, stand er allem Weiblichen - fast möchte man sagen - zu offen gegenüber, zumal auch seine Ehe scheiterte, er dennoch aber Zeit seines Lebens seiner Ehegattin verbunden blieb, vor allem aber jener Frau, die wie eine Sonne ihr Umfeld überstrahlte - zu dem auch Nietzsche gehörte: Lou Andreas-Salomé.
Mit der Bedeutung des Mütterlichen hat Rilke sich Zeit seines Lebens auseinandergesetzt, und es mag uns darauf verweisen, wie wichtig es ist zu erkennen, wie sehr auch in dem Mütterlichen sich zwei Seiten des Weiblichen spiegeln, die auch in unserer Seele enthalten sind.
Eine, die eher dunkle Seite, dokumentiert sich in einem Brief Rilkes, im April 1904 aus Rom an Lou geschrieben, in dem es heißt:

Meine Mutter kam nach Rom und ist noch hier. Ich sehe sie nur selten, aber - Du weißt es - jede Begegnung mit ihr ist eine Art Rückfall (...) Wenn ich diese verlorene, unwirkliche, mit nichts zusammenhängende Frau, die nicht alt werden kann, sehen muss, dann fühle ich, wie ich schon als Kind von ihr fortgestrebt habe, und fürchte tief in mir, dass ich, nach Jahren und Jahren Laufens und Gehens, immer noch nicht fern genug von ihr bin, dass ich innerlich irgendwo noch Bewegungen habe, die die andere Hälfte ihrer verkümmerten Gebärden sind, Stücke von Erinnerungen, die sie zerschlagen in sich herumträgt; dann graut mir vor ihrer zerstreuten Frömmigkeit, vor ihrem eigensinnigen Glauben, vor allem diesem Verzerrten und Entstellten, daran sie sich gehängt hat, selber leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich. Und dass ich doch ihr Kind bin (...)

Zuallermeist, auch bei aller Enttäuschung, trägt ein Kind die Liebe zu Vater und Mutter in sich, weil sie, ohne dass es das weiß, für eine archetypische, weit größere und uranfängliche steht; deshalb möchte sie doch gelebt und alle Tage möchten so gerne Vatertage und Muttertage sein. Man spürt es jenen Worten an, die Rilke seinen Malte in dessen Aufzeichnungen formulieren lässt - und ich denke, da wird auch Autobiographisches mitgeschwungen haben:

Maman kam nie in der Nacht -, oder doch, einmal kam sie. Ich hatte geschrien und geschrien, und Mademoiselle war gekommen und Sieversen, die Haushälterin, und Georg, der Kutscher; aber das hatte nichts genutzt. Und da hatten sie endlich den Wagen nach den Eltern geschickt, die auf einem großen Balle waren, ich glaube, beim Kronprinzen. Und auf einmal hörte ich ihn hereinfahren in den Hof, und ich wurde still, saß und sah nach der Tür. Und da rauschte es ein wenig in den anderen Zimmern, und Maman kam herein in der großen Hofrobe, die sie gar nicht in acht nahm, und lief beinah und ließ ihren weißen Pelz hinter sich fallen und nahm mich in die bloßen Arme. Und ich befühlte, erstaunt und entzückt wie nie, ihr Haar und ihr kleines gepflegtes Gesicht und die kalten Steine an ihren Ohren und die Seite am Rand ihrer Schultern, die nach Blumen dufteten. Und wir blieben so und weinten zärtlich und küßten uns, bis wir fühlten, daß der Vater da war und daß wir uns trennen mußten. (...) "Was für ein Unsinn uns zu rufen", sagte er ins Zimmer hinein, ohne mich anzusehen (...)

Ja gewiss, es gibt Kinder, die nie wirklich von ihren Eltern angeschaut worden sind. Aber die Sehnsucht ist dennoch da und unser Dichter hat es so formuliert:

 
Ich sehne oft nach einer Mutter mich,
nach einer stillen Frau mit weißen Scheiteln.
In ihrer Liebe blühte erst mein Ich;
sie könnte jenen wilden Hass vereiteln,
der eisig sich in meine Seele schlich.

Dann säßen wir wohl beieinander dicht,
ein Feuer surrte leise im Kamine.
Ich lauschte, was die liebe Lippe spricht,
und Frieden schwebte ob der Teeterrine
so wie ein Falter um das Lampenlicht.
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