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Samstag, 30. November 2019

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt . . . Über eine Gesellschaft, die sich systematisch selbst entweihnachtet!


Am untersten Ast sah man entsetzt
Die alte Wendel hangen.
Hell schien der Mond ihr ins Gesicht,
Das festlich still verkläret;
Weil auf der Welt sie nichts besaß,
Hatt' sie sich selbst bescheret.

Einer Gesellschaft, die sich systematisch selbst entweihnachtet, hält Gottfried Keller (1819-1890), der Schweizer Lyriker und Romanautor mit seinem Gedicht "Weihnachtsmarkt" einen angemessenen Spiegel vor. Jahr für Jahr wird er angemessener. Jahr für Jahr zieht Weihnachten früher auf die Märkte und in die Kaufhäuser ein. Christstollen sind oft schon vor dem 1. Advent ausverkauft. Kinder haben von Weihnachten genug. Schon vor dem 1. Advent hängt es ihnen zu den Ohren raus. Mit Macht wird man beschallt. Aber die Töne kommen nicht mehr an. Sie schließen kein Herz mehr auf. Es ist wie auf vielen Feldern: Unsere Gesellschaft gräbt sich die eigenen Wurzeln ab und während wie - was durchaus auch wichtig ist - über Rechtsradikalismus, Klimanotstand, Windräder, Elektroautos und digitale Rückständigkeit Deutschlands diskutieren, verlieren wir unsere Wurzeln und alles, über was wir diskutieren, könnte irgendwann gar keine Rolle mehr spielen - wer keine Wurzeln hat, ist eh schon tot, oft, bevor er es merkt; da spielt eigentlich auch keine Rolle mehr, dass nicht wenige unter uns sich Weihnachten gar nicht leisten können . . .

Welch lustiger Wald um das hohe Schloß
hat sich zusammengefunden,
Ein grünes bewegliches Nadelgehölz,
Von keiner Wurzel gebunden!

Anstatt der warmen Sonne scheint
Das Rauschgold durch die Wipfel;
Hier backt man Kuchen, dort brät man Wurst,
Das Räuchlein zieht um die Gipfel.

Es ist ein fröhliches Leben im Wald,
Das Volk erfüllet die Räume;
Die nie mit Tränen ein Reis gepflanzt,
Die fällen am frohsten die Bäume.

Der eine kauft ein bescheidnes Gewächs
Zu überreichen Geschenken,
Der andre einen gewaltigen Strauch,
Drei Nüsse daran zu henken.

Dort feilscht um ein winziges Kieferlein
Ein Weib mit scharfen Waffen;
Der dünne Silberling soll zugleich
Den Baum und die Früchte verschaffen.

Mit rosiger Nase schleppt der Lakai
Die schwere Tanne von hinnen;
Das Zöfchen trägt ein Leiterchen nach,
Zu ersteigen die grünen Zinnen.

Und kommt die Nacht, so singt der Wald
Und wiegt sich im Gaslichtscheine;
Bang führt die ärmste Mutter ihr Kind
Vorüber am Zauberhaine.

Einst sah ich einen Weihnachtsbaum:
Im düsteren Bergesbanne
Stand reifbezuckert auf dem Grat
die alte Wettertanne.

Und zwischen den Ästen waren schön
Die Sterne aufgegangen;
Am untersten Ast sah man entsetzt
Die alte Wendel hangen.

Hell schien der Mond ihr ins Gesicht,
Das festlich still verkläret;
Weil auf der Welt sie nichts besaß,
Hatt' sie sich selbst bescheret.

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