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Sonntag, 1. Januar 2012

"Du siehst, dass ich ein Sucher bin" - Auf den Wegen Rainer Maria Rilkes

In den letzten Tagen habe ich mich wieder einmal mit Rilke beschäftigt und mir ist aufgefallen, wie sehr er in der Tat sucht, Gott sucht, und wie unterschiedlich die Blicke sind, die er auf ihn wirft, und die Worte, mit der er ihn anspricht. Jene in der Überschrift zitierten Worte finden sich übrigens in Rilkes Buch vom mönchischen Leben.
Mit am intensivsten finde ich in diesem Zusammenhang das folgende, ich glaube, 1899 in Berlin geschriebene Gedicht:


Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.
Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds -
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.
Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.
Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal in mir das Licht entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen. 
Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt.

Wenn man Rilkes Gedanken folgt, bemerkt man schnell, wie wenig linear sie sind, wie stellenweise fast widersprüchlich, verwirrend:

Gott allein in einem Saal?

Gott braucht jemanden?

Gott tastet, tastet womöglich umher?

Durch >Zufall< ist eine Wand zwischen ihm und Gott?

Die Wand besteht aus den Bildern Gottes?

Trotz des erkennenden Lichtes sind die Sinne des lyrischen Ichs - sagen wir ruhig: Rilkes - ohne Heimat und von Gott getrennt?

Schnell bemerkt der Leser, dass alle Aussagen, die Rilke über Gott trifft, im Grunde Aussagen von ihm über sich selbst sind.

Das ist ja ein Kennzeichen menschlichen Suchens und aller Theologie: Die Aussagen, die Menschen über Gott treffen, treffen sie in aller Regel über sich selbst. Am deutlichsten wird das bei Rilke in den Aussagen, dass Gott jemanden brauche. 

Nicht Gott braucht jemanden, Rilke braucht Gott. 
Nicht Gott tastet, Rilke tastet und er hätte so gerne einen Trank aus Gottes Hand.

eine Fortsetzung dieser Gedanken finden Sie hier