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Samstag, 23. November 2019

"Schrittweis kehr ich heim und weine, / Und mir blieb mein müdes Herz / An der Grenze." - Vom Leben an der Grenze.

An der Grenze grüßt ein Haus.
Wandrers Zuflucht, stammgezimmert,
Schirmt’s vorm Strahl, der ficht und flimmert,
Wehrt dem Herbstwind, der’s umwimmert.
Oftmals späht ich von ihm aus
Nach der Grenze.

An die Grenze kroch der Schmerz,
Lag im Busch als bunte Steine;
Fand ich einen, ward’s der meine.
Schrittweis kehr ich heim und weine,
Und mir blieb mein müdes Herz
An der Grenze.

Auf die Grenze fällt bald Schnee,
Stäubt und schlägt: Ein Weg erblindet,
Der durch Tann sich aufwärts windet.
Ob zurück ins Tal er findet?
Eins nur weiß ich wohl: ich steh
An der Grenze.

Was ist das für eine Grenze, nach der ein Wanderer, unterwegs und in einem Haus Unterschlupf findend, späht und nicht hinüberkommt?
Eine Grenze, die noch dazu droht, im Schnee zu versinken; der Weg zu ihr kann erblinden (fast will es scheinen, der Weg zurück ins Tal, also weg von der Grenze, sei noch gangbarer).

In der Literatur ist diese Grenze auf vielfältige Art beschrieben worden. Sie ist in Kafkas Türhüterlegende der Zutritt zum Gesetz, der dem Mann vom Lande verwehrt ist (weil er ihn sich selbst verwehrt), sie ist in Goethes Märchen der Fluss zum Land der schönen Lilie, der Zutritt zum Reich der Mütter im Faust II, die Himmelsleiter, die Jakob sieht, die Frage Parzivals an den kranken Gralskönig, respektive an das eigene, überholte Bewusstsein, und der Zugang zum Bergesinneren, in dem sich die Blaue Blume findet.

Ein lyrisches Ich outet sich als einer der möglichen Wanderer.
Stein um Stein findet es an der Grenze, ein Stein, ein Schmerz, den sich das lyrische Ich zu eigen macht und mit ihm heimkehrt ins eigene müde Herz, das doch immer an der Grenze ist.
Aber nicht hinüberkommt.

Die Steine sind bunt, aber sehr grenzwertig.

Dem lyrischen Ich bleibt das Bewusstsein, an der Grenze zu stehn. - Damit endet das Gedicht.

Kennen wir diese bunten Steine, mit denen sich vielleicht nicht nur wir, sondern im Grunde alle Menschen beladen, die womöglich das Herz so müde machen, dass es nicht die Kraft findet, über die Grenze zu gelangen? - Sisyphus könnte ein Lied davon singen. Camus hat ihm ein Essay gewidmet und ihn als ewigen Rebellen glorifiziert . . . für mich eine philosophische Fata Morgana, ein Blankoscheck für den ewigen Aufenthalt im Haus vor der Grenze. - Steine können so schön bunt sein . . .

Gertrud Kolmar ist diese Grenzgängerin. Ihrer Schwester schrieb sie, sie sei immmer die Andere gewesen, nie die Eine. 

Sie hat Deutschland - auch ihrem Vater zuliebe, den sie nicht allein lassen wollte (er starb kurz vor ihr in Theresienstadt, sie 1943 49-jährig in Auschwitz) - nie verlassen, obwohl wir ihren Gedichten und ihren Aussagen, gerade auch in ihren Briefen entnehmen, dass sie ahnte, ja wusste, was auf sie zukommt. In einem ihrer Gedichte aus dem Zyklus Das Wort der Stummen, geschrieben am 30. September 1933 und überschrieben An die Gefangenen heißt es:

Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch nicht!
Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen.

Ihre Grenze lag zwschen der Anderen und der Einen. Als Schriftstellerin überschritt sie die Grenze von der Stummen zur Schreibenden. Im Leben näherte sie sich immer mehr der Jüdin in sich. Und blieb es bis zum bitteren Ende.

Für uns stellt sich die Frage: Sind wir der oder die Andere - oder doch der oder die Eine?
Sind wir uns überhaupt dieser Grenze zwischen beiden bewusst?

Gertrud Kolmars Zeilen, geschrieben um 1920, leisten das, was ihre Lyrik immer wieder tut und das dichterische Wort immer wieder auch zu leisten vermag: uns an jene Grenze zu erinnern, auf die wir womöglich gerne Schnee fallen lassen.

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