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Freitag, 27. Dezember 2019

"... still versanken im Strom des Schauens zwischen uns die Schranken" - Richard Dehmels "Liebe"

Liebe

Du sahst durch meine Seele in die Welt,
es war auch deine Seele: still versanken
im Strom des Schauens zwischen uns die Schranken,
es ruhten Welt und Du in Mir gesellt.

Dein Auge sah ich liebevoll erhellt:
Erleuchtung fluteten, Erleuchtung tranken
zusammenströmend unsre Zwiegedanken,
in Deiner Seele ruhte Meine Welt.

Und selig fühlten wir, die blind und kalt
die Welt entzwein durch Lüste und durch Hehle,
vereint als Lauterkeiten unsre Fehle

durch dieses Blickes tiefe Lichtgewalt.
Denn Liebe ist die Freiheit der Gestalt
vom Wahn der Welt, vom Bann der eignen Seele.

Richard Dehmel, Liebe
Aus der Sammlung Lebensblätter

Richard Dehmel (1863-1920) war in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhundersts ein deutschlandweit bekannter Autor, der heute nahezu in Vergessenheit geraten ist. Damals war er - man möchte fast sagen - eine literarische Instanz und es wird berichtet, dass er vor über tausend Menschen mit anderen Literaten zusammen seine sozialdemokratisch orientierten Gedichte vortrug, die vielfach vertont und also auch gesungen wurden, u.a. im berühmten Münchner Kabarett Die Elf Scharfrichter.
Überregional bekannt geworden war er 1896, weil er wegen Verletzung religiöser und sittlicher Gefühle im Rahmen seines Gedichtes »Venus Consolatrix« gerichtlich verurteilt worden war.
Zumeist werden, wenn überhaupt, seine Gedichte, die die Arbeiterbewegung unterstützten, in Anthologien abgedruckt. Doch schrieb er auch viele Gedichte, die sich mit der Liebe zwischen Mann und Weib - Dehmel spricht zuallermeist von der Frau als Weib -, aber auch Gedichte, die sich mit der Sinnhaftigkeit des Lebens beschäftigen und bisweilen einen durchaus spirituellen, um nicht zu sagen okkulten Tonfall aufweisen. Wiederholt zum Beispiel werden die Toten in die Gedankengänge der Lebenden mit einbezogen.
Er schrieb, der Stimmung der damaligen Zeit gemäß, auch deutsch-nationale Gedichte, und es kommt nicht von ungefähr, dass er sich - immerhin 51 Jahre alt - 1914 als Kriegsfreiwilliger meldete. Bis 1916 war er an der West- und der Vogesenfront im Einsatz.
1920 verstarb er an einer Thrombose, möglicherweise als Folge einer Kriegsverletzung

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