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Freitag, 25. September 2020

Gegen den Immer-muss-was-los-sein-Trend: Goethes "Dauer im Wechsel"

Was für einen Anlauf nimmt Goethe, um nach 36 Versen das, um was es ihm geht, in einem Satz zu Papier zu bringen: Was du im Busen trägst und was dein Geist formatiert, ist unvergänglich, auch wenn so vieles - und so viel Schönes und  Bemerkenswertes - sich als zeitlich erweist; es ist, um es geisteswissenschaftlich zu formulieren, luziferisch, wenn man so will, Chimäre, Schein, der uns auch noch das Gefühl vermittelt, unsere geistige Betätigung hänge zusammen mit stofflichen Vorgängen.

Alles, was Goethe über vier Strophen hin nennt und mit vollem Herzen vor unsere Augen hinzaubert - wenn es auch immer den Ton des Verfalls in sich trägt - ist vergänglich (so betörend es wirken mag); der vorwärtsdrängende vierhebige Trochäus und die immer wieder vorhandenen Zeilensprünge unterstützen auf der formalen Ebene diesen Charakter. Und nicht von ungefähr nimmt der weise Weimarer Bezug zu Heraklit und seinem ´panta rhei´ und jenem Hinweis, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steige, der das Fließen der Zeit im Bild des Wassers intoniert.

Der 2002 verstorbene Publizist und Literaturkritiker Werner Ross verweist in seinen Gedanken zu diesem Gedicht in Reich-Ranickis Gedichtsammlung´“1000 Deutsche Gedichte“ darauf, dass dieses Gedicht in der „Ausgabe letzter Hand“ in der gewichtigen Sammlung „Gott und die Welt“ stehe, die anhebt mit dem Proömium „Im Namen dessen, der sich selbst erschuf!“ und fortfährt mit so ewigkeitsraunenden Gedichten wie „Vermächtnis“ und „Urworte Orphisch“. Verglichen mit diesen tiefsinnigen Entfaltungen Goethescher Weltanschauung sei der Gehalt von „Dauer im Wechsel“ bescheiden.

Was dem guten Mann entgangen sein könnte, ist, dass Goethe mit dem formalen Aufbau seines Gedichtes uns vor Augen führt, wie sich für die Mehrheit der Menschheit Leben präsentiert:
Es ist der Wechsel, das Reich der Zeit, das Menschen in Beschlag nimmt. Und wir wissen doch, dass sich der Hang zur Aktion, zur ständigen Abwechsung im Grunde immerfort verstärkt – und wie schwer es den Menschen fällt, auf Action zu verzichten, zeigt Corona auf.
 
Darf es noch die gute alte Lange-Weile geben?
Muss//musste nicht vor Corona jeder Kindergeburtstag ein Staccato bestgeplanter Turbo-Unterhaltung sein?
Und geben mittlerweile nicht nur Journalisten, sondern auch geisteswissenschaftlich orientierte Menschen jenem Schwachsinn nach, für ihren Beitrag die Lesezeit anzugeben!
Bloß nicht zu lange irgendwo verweilen müssen. Dann lieber gleich weiterklicken!

Gut, wenn wir, bevor wir das Zeitliche segnen, wie es so sinnhaft bezeichnend heißt, das Überdauernde in allem erkennen. Diese Erkenntnis mag spät kommen, aber gut, wenn sie überhaupt kommt.

Es ist doch nicht das Weibliche, das uns hinanzieht.
Es ist eben das Ewig-Weibliche.

Und es gehört nun einmal zum Wesen unseres Lebens, dass wir Dauer nur in Begriffen der Zeit erfassen können, verweisen können auf den Gehalt, tief in unserem Herzen und das, was unser Geist Dauerhaftes formatieren mag und uns in Ewigkeit gestaltet.
Jahre später hat Goethe in zwei Gedichten, in „Eins und alles“ und „Vermächtnis“ dem Wesen der Dauer eigenes Gewicht gegeben, den ein oder anderen überfordernd, wenn er Ersteres enden lässt mit


Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muss in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.


Manchem seiner Verehrer mag das doch zu viel gewesen sein, weshalb Goethe in „Vermächtnis“ zur Beruhigung nachgeschoben haben mag:

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ew´ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte Dich beglückt!


Bei sich mag er gedacht haben:
Es bleibt dabei - ohne Nichts kein Sein, ohne Wechsel keine Dauer.
Unserer menschlichen Wirklichkeit hat er jedenfalls mit dem Aufbau seines Gedichtes Tribut gezollt: Noch dominiert sehr die Vergänglichkeit, der Wechsel in der Seele der Menschen. 
Aber das muss nicht so bleiben.


Dauer im Wechsel

Hielte diesen frühen Segen,
Ach, nur eine Stunde fest!
Aber vollen Blütenregen
Schüttelt schon der laue West.
Soll ich mich des Grünen freuen,
Dem ich Schatten erst verdankt?
Bald wird Sturm auch das zerstreuen,
Wenn es falb im Herbst geschwankt.
 
Willst du nach den Früchten greifen,
Eilig nimm dein Teil davon!
Diese fangen an zu reifen,
Und die andern keimen schon;
Gleich mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal,
Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum Zweitenmal.
 
Du nun selbst! Was felsenfeste
Sich vor dir hervorgetan,
Mauern siehst du, siehst Paläste
Stets mit andern Augen an.
Weggeschwunden ist die Lippe,
Die im Kusse sonst genas,
Jener Fuß, der an der Klippe
Sich mit Gemsenfreche maß.
 
Jene Hand, die gern und milde
Sich bewegte, wohlzutun,
Das gegliederte Gebilde,
Alles ist ein andres nun.
Und was sich an jener Stelle
Nun mit deinem Namen nennt,
Kam herbei wie eine Welle,
Und so eilt's zum Element.
 
Laß den Anfang mit dem Ende
Sich in eins zusammenzieh'n!
Schneller als die Gegenstände
Selber dich vorüberflieh'n.
Danke, daß die Gunst der Musen
Unvergängliches verheißt:
Den Gehalt in deinem Busen
Und die Form in deinem Geist.

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