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Sonntag, 1. November 2009

"HERBSTTAG" - Rainer Maria Rilkes Zwiegespräch mit Gott: Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß!




HERBSTTAG

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die letzten Blätter treiben.

Ist Rainer Maria Rilkes Ton in diesem 1906 geschriebenen Gedicht nicht sehr, vielleicht zu forsch gegenüber Gott?
Ist dieser zutiefst religiöse Dichter zu respektlos?
Und warum sollen Schatten kommen und Winde, warum bittet Rilke nicht um die goldenen Farben des Herbstes?

Des Rätsels Lösung liegt in dem Hinweis auf den großen Sommer und in dem Wunsch nach Vollendung. Früchte und Trauben spüren und wissen um den kommenden Wandel und müssen und wollen noch aufnehmen, was geht. Das Ende des Sommers ist fühlbar; es liegt in der Luft, auch in den Stürmen; die Schatten werden länger; alles atmet noch einmal bewusst und intensiv letzte sommerliche Lebensglut ein. Alle Steine, Pflanzen, Wesen, ja, die Erde atmet den Dank an die Sonne.
Es ist Erntedank. Er reicht weit in den November hinein.

Rilke weiß um die göttlichen Metamorphosen des Jahreszeitenwechsels; die Natur bedarf der reinigenden Stürme, sie bedarf zugleich der Schattenräume, um zur Ruhe zu kommen.
Leg ... lass ... befiehl ... gib ... dränge ... jage: Rilke gibt nicht Anweisungen; so ist es nicht. Er weiß um den göttlichen Wechsel. Vorausschauend spricht er an, was Gott in seiner Weisheit tut, wohlwissend, dass es gut ist, wie im Alten Testament Josef und wie im Neuen Testament die klugen Jungfrauen Vorkehr getroffen haben, damit die Heimkehr gelingen kann.

Immer ist auch der Herbst im Jahresverlauf vergleichbar dem Herbst des Lebens.
Der Sommer hat das Lebenshaus gebaut, im Herbst wird das Dach gedeckt, und zwar hurtig; dann muss noch der letzte Handwerker her.
Herbst und vor allem Winter können lang sein; sie sind aber vor allem für jenen ein Segen, der im Sommer nicht die Hände in den Schoß gelegt hat, sondern rege war, unterwegs, auf großer Fahrt, vor allem in seinem Inneren.
Dann füllen sich die Briefe, die Rilke anspricht, mit tiefem Sinn und ein ruhiges Gewissen ist Gefährte auf dem Gang durch die Allee des Lebens.

Du kannst dieses ruhige Gewissen auch Gott nennen.

Rainer Maria Rilke sagt Ja zu Gott:

Ja Herr, es ist Zeit.

* DEINE ZEIT *


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