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Mittwoch, 9. Januar 2013

Wieso weinen die Sterbenden nie? – Über Max Frischs Fragebogen zum Tod und einen sterbenden US-Soldaten in Vietnam.


Obige Frage findet sich am Ende von Max Frischs Fragebogen zum Todder allerdings in der hier verlinkten Form von mir für meinen Ethik-Unterricht leicht abgewandelt worden ist. Er findet sich im Original im Tagebuch 1966 bis 1971 des 1991 verstorbenen Schweizer Autors; dort finden sich auch Fragebögen zum Thema Ehe, Humor, Geld, Freundschaft, Heimat, Eigentum und anderen Themenbereichen mehr.

Max Frisch hat hier eine ganz eigene Form, Fragen zu stellen, gefunden, Fragen, die überraschen, entgeistern, unser lineares Denken auf den Kopf stellen, auch schlagartig nachdenklich stimmen.

Oder wie finden Sie eine Frage wie: Ist die Ehe für Sie noch ein Problem?

Wie kann Frisch einfach von "noch" sprechen?
Oft ist es so, dass die Fragen voraussetzen, dass man erst andere inhaltliche Punkte abklärt, z.B.: War die Ehe für mich ein Problem? oder Ist es ein Zeichen von Resignation, dass Ehe für mich kein Problem mehr ist ...

Mit den Fragen zum Tod verhält es sich ähnlich:

● Haben Sie Freunde unter den Toten?

● Wenn der Atem aussetzt und der Arzt es bestätigt: Sind Sie sicher, dass man in diesem Moment keine Träume mehr hat?

● Möchten Sie unsterblich sein?

● Wenn Sie einen toten Menschen sehen: Haben Sie dann den Eindruck, dass Sie diesen Menschen gekannt haben?


Was mich nachdenklich stimmte: Tatsächlich kann ich mich nicht daran erinnern, selbst nicht in einem Film einen Sterbenden gesehen zu haben, der weinte.

Worauf ich aber zu sprechen kommen möchte und was mich, als ich ihn las, unendlich tröstete, tatsächlich unendlich tröstete und beruhigte, war jener Bericht bei Raymond A. Moody, der ja aus den vorausgegangenen Posts zu diesem Thema nun kein Unbekannter mehr ist, über einen jungen amerikanischen Soldaten, der in Vietnam "fiel":


Als ich in Vietnam diente, wurde ich verwundet, was dazu führte, dass ich "starb". Die ganze Zeit über erlebte ich jedoch ganz genau alles mit, was mit mir vorging. Als es passierte, dass ich von sechs Maschinengewehrkugeln getroffen wurde, geriet ich überhaupt nicht außer Fassung. Im Herzen fühlte ich mich nach der Verwundung tatsächlich erleichtert. Ich empfand Wohlbehagen. Das Ganze hatte nichts Beängstigendes für mich
In diesem Augenblick, als ich getroffen wurde, erschien auf einmal mein ganzes Leben als Bilderbogen vor mir. Ich sah mich in die Zeit zurückversetzt, als ich noch ein kleines Kind war, und von da an bewegten sich die Bilder weiter durch mein ganzes Leben.
Ich konnte mich wirklich an alles erinnern. Alles stand so klar und lebendig vor mir. Von den frühesten Ereignissen, an die ich mich gerade noch eben erinnern kann, bis herauf zur Gegenwart war alles genauestens aufgezeichnet, und es lief in Windeseile vor mir ab. Das Ganze war überhaupt nicht unangenehm; ich empfand dabei weder Bedauern noch irgendwelche herabsetzenden Gefühle mir selbst gegenüber. Der treffendste Vergleich, der mir dazu einfällt, wäre der mit einer Bilderserie, einer Dia-Reihe vielleicht. Es war etwa so, als ob jemand Dias vor mir projiziert hätte, in außerordentlich raschen Tempo.

Hier endet Moodys Wiedergabe. Er hatte den Bericht des jungen amerikanischen Soldaten in dem Unterkapitel wiedergegeben, in dem er auf eine der 12 Stationen einging (siehe letzter Post), in der es um den Lebensfilm ging; auf diesen sollte hier hingewiesen werden.

Mir ging es um etwas Anderes. Ich dachte an all die vielen Berichte, die ich zu Geschehnissen im Ersten und Zweiten Weltkrieg gelesen hatte, wie schrecklich zum Teil Soldaten - man kann nur sagen - verendet waren, nach einem erfolglosen Sturmangriff liegend zum Teil viele Stunden noch lebend zwischen Stacheldrahtverhauen, wo sie kein Kamerad holen konnte, weil hüben und drüben die Scharfschützen in den Stellungsgräben lauerten. Keiner konnte helfen; viele stöhnten und starben über viele Stunden.

Moodys Wiedergabe lässt mich verlässlich annehmen, dass die allermeisten nicht so grässlich sterben mussten, wie ich es bis dahin angenommen hatte. Die Seele hatte wohl längst den Körper verlassen, der dort zwar noch lag, aber für das Wesen Mensch keine Bedeutung mehr hatte.
Ich könnte hier noch den ein oder anderen Unfallbericht, den Moody zitiert, wiedergeben, im Rahmen dessen "Sterbende" selbst noch das Krachen ihrer Knochen im Ohr haben, aber dennoch über der Unfallstelle schweben und keine Schmerzen empfinden.

Oder eine Frau berichtet, wie sie "stirbt". Sie erzählt, dass sie hört, wie eine Schwester ruft: "Herzstillstand". Sie sieht, wie ihr die Elektroden auf die Brust gesetzt werden, wie sie den Elektroschock erhält, sie hört ihre Knochen krachen und berichtet:
"Als ich sie da unten auf meinen Brustkorb klopfen und meine Arme und Beine reiben sah, dachte ich:´Warum geben sie sich bloß so viel Mühe, wo es mir doch jetzt so gut geht.`"
Das ist Gott sei Dank dank dieser Berichte - Moody hatte allein 150 gesammelt, andere Autoren werden folgen und wesentlich mehr gesammelt haben - eine neue Sicht auf den Tod und auf ein Sterben, das sehr oft nicht so entsetzlich grausam gewesen sein wird, wie wir es bisher angenommen haben; das betrifft auch Menschen, die verbrannten oder auf andere Weise grausam umkamen; es gilt auch für Menschen, die zu Tode gefoltert wurden.

Und was mir auch unglaublich gut tut zu wissen, ist, dass das für mich mit Sicherheit auch Tiere betrifft. Ich gehöre zu denen, die selten Tierfilme ansehen, so schön sie auch partiell sind, weil viele doch Szenen enthalten, wo z.B. ein Löwe eine Antilope reißt. Ich kann das nicht sehen ... Es wird auch die Maus betreffen, die von einer Katze genüsslich zu Tode gequält wird. Selbst wenn der Körper noch zu fliehen sucht: Die Tiere empfinden nichts mehr. Für mich haben höher entwickelte Tiere auch eine Seele - und die Weisheit des Lebens beschützt auch sie, wie sie viele Menschen beschützt hat, die auf tragische Weise starben.

Dafür danke ich dieser Weisheit.

Fortsetzung der Thematik  hier

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